Oben.jpg - 455 Bytes

zurück zu
Schlicht's Seite

rechts.jpg - 462 Bytes

zum zweiten
Kapitel


Biographie

von

Wolf Graf von Baudissin

(Freiherr von Schlicht)

Vergleich der beiden Fassungen von 1917 und 1924
mit zahlreichen Anmerkungen von Karlheinz Everts



Was ich so erlebte

von

Freiherr v. Schlicht

(Wolf Graf v. Baudissin)

Otto Janke, Berlin

Was ich so erlebte

von

Freiherr v. Schlicht

(Wolf Graf v. Baudissin)

10. – 12. Tausend

Neue, vollständig umgearbeitete Auflage

Otto Uhlmann Verlag, Berlin
(Friedrich Butsch)


Inhalt

 

Vorwort

Seite 9
 

Was ich so erlebte

Seite 15 fast
 

Im bunten Rock

Seite 41 fast
 

Als freier Schriftsteller

Seite 133 recht
 

Wieder in Dresden

Seite 191 recht

Inhalt

Vorwort

Seite 5
identisch

Wie ich als totes Kind geboren

Seite 7
identisch

Im bunten Rock

Seite 27
unterschiedlich

Als freier Schriftsteller

Seite 91
unterschiedlich

Dresden–Berlin–Weimar

Seite 133

Vorwort.

Vieles von dem, was ich als Offizier, als Zivilist und als Weltenbummler so erlebte, habe ich mit Rücksicht auf die jetzige Zeit nicht niederschreiben dürfen, aber ich glaube, ich hätte es auch aus anderen Gründen nicht getan, denn es ist die alte Geschichte, was uns selbst in unserem Leben am meisten gepackt und ergriffen hat, läßt den unbeteiligten Dritten vollständig kalt. Es geht dem, der aus seinem Leben erzählt, damit genau so, wie dem Autor, der ein Theaterstück geschrieben hat und der im voraus felsenfest davon überzeugt ist: bei dieser oder jener Stelle wird das Publikum vor Rührung fortschwimmen, – oder wenn es sich um ein Lustspiel handelt: bei dieser Stelle wird das Publikum nach dem Arzt rufen, weil es vor lachen Weinkrämpfe bekommen hat – aber gerade solche Stelle verpuffen vollständig und die erwartete Wirkung bleibt aus. Deshalb habe ich es bei der Niederschrift der nachfolgenden Blätter gar nicht erst darauf angelegt, ernste oder gar komische Wirkungen erzielen zu wollen. Vielleicht lachen die freundlichen Leser oder Leserinnen trotzdem ein paarmal, oder vielleicht gerade deshalb, denn lachen will ja nun einmal jeder, der einen Schlichtband in die Hand nimmt. Aber das nicht allein, viele glauben, auch ich selbst lache den ganzen Tag, viele meinen das im vollen Ernst und schütteln ungläubig den Kopf, wenn ich ihnen erwidere, daß mir in meinem Leben sehr, sehr oft nicht zum Lachen zumute war. Und das letztere war vielleicht sehr gut, denn dann habe ich am besten gearbeitet, gerade dann fielen mir die verrücktesten Gedanken ein, aus solchen Stimmungen heraus sind meine lustigsten Geschichten entstanden.

Große, welterschütternde Ereignisse wird der Leser in diesem Bande nicht finden, aber ich hoffe, daß er mich auch ohnedem auf meinem Lebenswege bis zu meinem 50. Jahre begleiten wird. Und meinen vielen, vielen Lesern und meinen noch zahlreicheren Leserinnen möchte ich an dieser Stelle herzlichst dafür danken, daß sie mir und meinen Büchern bisher so gute und vor allen Dingen so treue Freunde waren. Daß dem auch weiterhin so bleiben möge, ist der einzige Wunsch, den ich zu meinem 50. Geburtstage habe.
Der Verfasser.

Vorwort.

Die erste Auflage des vorliegenden Buches erschien aus Anlaß meines 50. Geburtatages im Jahre 1917. Trotz der Ungunst der Zeiten, trotz Krieg, Revolution, Umschwung aller Verhältnisse, Teuerung, Geldentwertung und trotz allem, was wir sonst noch an lieblichen und erfreulichen Dingen erlebt haben, ist die erste sehr starke Auflage des Buches vollständig vergriffen, so daß ein Neudruck nötig wurde. Ich habe bei dieser Gelegenheit meine Erlebnisse einer gründliche Durchsicht und Revision unterzogen, viel von dem, was ich einst niederschrieb, gestrichen und dafür viel Neues erzählt, namentlich aber meine Erlebnisse bis auf den heutigen Tag ergänzt.

Als das vorliegende Buch zum erstenmal erschien, haben mir viele meiner Leser und Leserinnen gesagt und geschrieben, es wäre eins der lustigsten geworden, das ich je verfaßt hätte. Ob dieses freundliche Lob der Wahrheit entspricht, kann ich selbst natürlich nicht beurteilen, aber ich hoffe und ich glaube in aller Bescheidenheit annehmen zu dürfen, daß die Neuauflage auch ganz lustig geworden ist.
Weimar, im März 1924.
Freiherr v. Schlicht
(Wolf Graf v. Baudissin).


Was ich so erlebte

Je nach dem Tage, an dem der freundliche Leser und die sicher noch viel freundlichere Leserin die nachstehenden Blätter zur Hand nimmt, (vorausgesetzt, daß sie überhaupt genommen werden), sind, waren oder werden es am 30. Januar 1917 (1) fünfzig Jahre, daß ich in der Stadt Schleswig das Licht der Welt erblickte. Und wenn ich aus Anlaß dieses Ereignisses, das wenigstens für mich zuweilen eins war, auf das zurückblicke, was ich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte so erlebte, ist es für mich zunächst das Größte und Wunderbarste, daß ich überhaupt noch lebe, das schon deshalb, weil ich bei meiner Geburt als totgeborenes Kind auf die Welt kam. Selbstverständlich ist diese Totgeburt mit dem alten Grano des noch bekannteren Salis zu verstehen, denn wenn ich wirklich tot gewesen wäre – aber ich war nur scheintot, richtiger gesagt, meine Lebensgeister, die ich nicht von mir gab, waren so schwach, daß der Arzt und die Hebamme mich lange für tot hielten, und als sie doch schließlich entdeckten, daß ich atmete, da prophezeite man mir ein Leben von Minuten, allerhöchstens von Stunden. Aber stattdessen lebe ich auch heute noch, wenigstens am heutigen Tage, an dem ich angefangen habe, meine Erinnerungen niederzuschreiben. Ob aber auch dann noch, wenn der freundliche Leser und die sicher noch viel freundlichere Leserin diese meine Erinnerungen liest? Wer kann das wissen, denn seit fünfundzwanzig Jahren prophezeien mir alle Ärzte wegen meines ewigen Rauchens einen schnellen und frühen Tod. Aber an mir scheinen sich die Prophezeiungen nicht zu erfüllen, sonst wäre ich wohl schon als Kind in die Grube gefahren, denn ich war und blieb immer ein sehr zartes Kind, eine Tatsache, die man mir heute gar nicht mehr ansieht und die auch viele mir nicht glauben werden. Aber wahr ist es doch, von jeder Krankheit, die es überhaupt nur gibt, habe ich mindestens zwei gehabt, und selbst als ich im Jahre 1889 (2) als Fähnrich in die Armee eintrat, war ich noch so wenig entwickelt, daß man mich zuerst gar nicht als Fähnrich annehmen wollte und daß man es erst tat, als ich erklärte, freiwillig auf jede Pension verzichten zu wollen, wenn ich im ersten Dienstjahr als Kranker entlassen werden müßte. Na, inzwischen habe ich mich ja zu einem gewissen Leibesumfang entwickelt und ich würde die Krankheiten meiner Kinderjahre mit keiner Silbe erwähnt haben, wenn sich aus den Folgen dieser Krankheiten nicht im Laufe der Jahre der Freiherr von Schlicht entwickelt hätte, der es als erster wagte, sich in seinen Büchern über manches beim Militär in humoristisch-satirischer Weise lustig zu machen. Wie das so kam, werde ich zu erklären versuchen, wenn ich später auf dem Kasernenhof angelangt bin. Vorläufig gehe ich in der Erinnerung, aber Gott sei Dank auch nur in der, wieder zur Schule, sitze wieder in der Septima und schreibe „schön”. Wer sechsmal nach der Reihe unter seiner häuslichen Arbeit das Prädikat „gut” hatte, bekam bei dem siebenten Mal das Prädikat „gut, lieber —” Rudolf, Fritze oder wie man sonst hieß. Und wer da siebenmal sieben „gut” hatte, erhielt bei dem 49. Mal das Prädikat „gut, mein lieber —” Rudolf, Fritze, oder wie man sonst hieß und außerdem in einer öffentlichen Belobigung ein Buch aus der Schülerbibliothek geschenkt – wenn man es bekam. Ich aber bekam beides nicht, weder das „gut, mein lieber —”, noch das Buch, und doch habe ich mit emsigem Fleiß nach beidem gestrebt. Und meine verstorbene Mutter strebte mit mir. Tag für Tag saß sie neben mir und überwachte meine häuslichen Schularbeiten, und der Lohn schien auch nicht ausbleiben zu sollen, 48 mal nach der Reihe erhielt ich das Prädikat „gut”, sechsmal das Prädikat „gut, lieber Wolf”, aber dann verließ mich das Fieber, wie man so schön zu sagen pflegt. In der Absicht, mir das Prädikat „gut, mein lieber Wolf” und das Buch bestimmt zu verdienen und in der Aufregung, ob ich es mir auch bestimmt verdienen würde, schrieb ich nicht so gut wie sonst. Statt des „gut” erhielt ich nur das Prädikat „befriedigend”, und so war es mit der Hoffnung auf das Prädikat „mein lieber” und auch das Buch aus. Schreiend, heulend und brüllend kam ich aus der Schule nach Hause gelaufen. Ich hatte die erste große Enttäuschung meines Lebens durchgemacht, und so jung ich auch noch war, schon damals wurde mir die Wahrheit des alten Wortes klar: „Nimm di nix vör, dann geiht di nix fehl,” Und ich habe dann auch danach sehr oft gehandelt, auch schon als Septimaner, denn ich habe nicht zum zweitenmal den Versuch gemacht, das Prädikat „mein lieber” zu erhalten. Ja, ich habe von dem Tage an mit Absicht aus einem gewissen Trotz heraus meine Handschrift auf der Schule vernachlässigt, weil ihr – natürlich nicht der Schule – die verdiente Anerkennung im letzten Augenblick doch nicht zuteil wurde und im weiteren Zusammenhang damit habe ich mir eine Handschrift angewöhnt, die kein Mensch entziffern kann, selbst ein Raubmörder nicht, dem man sagen würde: „Der Tag deiner schon bestimmten Hinrichtung wird auf hundert Jahre verschoben, wenn es dir innerhalb dieser Frist gelingt, in einem Manuskript von Schlicht auch nur eine halbe Seite zu entziffern.”

Wie ich als totes Kind geboren und doch noch Fahnenjunker wurde.

Am 30. Januar 1917 waren es fünfzig Jahre, daß ich in der Stadt Schleswig das Licht der Welt erblickte.

Und wenn ich aus Anlaß dieses Ereignisses, das wenigstens für mich zuweilen eins war, auf das zurückblicke, was ich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte so erlebte, ist es für mich zunächst das Größte und Wunderbarste, daß ich überhaupt noch lebe, das schon deshalb, weil ich bei meiner Geburt als totgeborenes Kind auf die Welt kam. Selbstverständlich ist diese Totgeburt mit dem alten Grano des noch bekannteren Salis zu verstehen, denn wenn ich wirklich tot gewesen wäre – aber ich war nur scheintot, richtiger gesagt, meine Lebensgeister, die ich nicht von mir gab, waren so schwach, daß der Arzt und die Hebamme mich lange für tot hielten, und als sie doch schließlich entdeckten, daß ich atmete, da prophezeite man mir ein Leben von Minuten, allerhöchstens von Stunden. Aber stattdessen lebe ich auch heute noch,


und das ist ein Wunder, denn seit fünfundzwanzig Jahren prophezeien mir alle Ärzte wegen meines ewigen Rauchens einen schnellen und frühen Tod. Aber an mir scheinen sich die Prophezeiungen nicht zu erfüllen, sonst wäre ich wohl schon als Kind in die Grube gefahren, denn ich war und blieb immer ein sehr zartes Kind, eine Tatsache, die man mir heute gar nicht mehr ansieht und die auch viele mir nicht glauben werden. Aber wahr ist es doch, von jeder Krankheit, die es überhaupt nur gibt, habe ich mindestens zwei gehabt, und selbst als ich im Jahre 1889 als Fähnrich in die Armee eintrat, war ich noch so wenig entwickelt, daß man mich zuerst gar nicht als Fähnrich annehmen wollte und daß man es erst tat, als ich erklärte, freiwillig auf jede Pension verzichten zu wollen, wenn ich im ersten Dienstjahr als Kranker entlassen werden müßte. Na, inzwischen habe ich mich ja zu einem gewissen Leibesumfang entwickelt und ich würde die Krankheiten meiner Kinderjahre mit keiner Silbe erwähnt haben, wenn sich aus den Folgen dieser Krankheiten nicht im Laufe der Jahre der Freiherr von Schlicht entwickelt hätte, der es als erster wagte, sich in seinen Büchern über manches beim Militär in humoristisch-satirischer Weise lustig zu machen. Wie das so kam, werde ich zu erklären versuchen, wenn ich später auf dem Kasernenhof angelangt bin. Vorläufig gehe ich in der Erinnerung, aber Gott sei Dank auch nur in der, wieder zur Schule, sitze wieder in der Septima und schreibe „schön”. Wer sechsmal nach der Reihe unter seiner häuslichen Arbeit das Prädikat „gut” hatte, bekam bei dem siebenten Mal das Prädikat „gut, lieber — Rudolf, Fritze” oder wie man sonst hieß. Und wer da siebenmal sieben „gut” hatte, erhielt bei dem 49. Mal das Prädikat „gut, mein lieber — Rudolf, Fritze,” oder wie man sonst hieß und außerdem in einer öffentlichen Belobigung ein Buch aus der Schülerbibliothek geschenkt – wenn man es bekam. Ich aber bekam beides nicht, weder das „gut, mein lieber —”, noch das Buch, und doch habe ich mit emsigem Fleiß nach beidem gestrebt. Und meine verstorbene Mutter strebte mit mir. Tag für Tag saß sie neben mir und überwachte meine häuslichen Schularbeiten, und der Lohn schien auch nicht ausbleiben zu sollen, 48 mal nach der Reihe erhielt ich das Prädikat „gut”, sechsmal das Prädikat „gut, lieber Wolf”, aber dann verließ mich das Fieber, wie man so schön zu sagen pflegt. In der Absicht, mir das Prädikat „gut, mein lieber Wolf” und das Buch bestimmt zu verdienen und in der Aufregung, ob ich es mir auch bestimmt verdienen würde, schrieb ich nicht so gut wie sonst. Statt des „gut” erhielt ich nur das Prädikat „befriedigend”, und so war es mit der Hoffnung auf das Prädikat „mein lieber” und auch das Buch aus. Schreiend, heulend und brüllend kam ich aus der Schule nach Hause gelaufen. Ich hatte die erste große Enttäuschung meines Lebens durchgemacht, und so jung ich auch noch war, schon damals wurde mir die Wahrheit des alten Wortes klar: „Nimm di nix vör, dann geiht di nix fehl,” Und ich habe dann auch danach sehr oft gehandelt, auch schon als Septimaner, denn ich habe nicht zum zweitenmal den Versuch gemacht, das Prädikat „mein lieber” zu erhalten. Ja, ich habe von dem Tage an mit Absicht aus einem gewissen Trotz heraus meine Handschrift auf der Schule vernachlässigt, weil ihr – natürlich nicht der Schule – die verdiente Anerkennung im letzten Augenblick doch nicht zuteil wurde und im weiteren Zusammenhang damit habe ich mir eine Handschrift angewöhnt, die kein Mensch entziffern kann, selbst ein Raubmörder nicht, dem man sagen würde: „Der Tag deiner schon bestimmten Hinrichtung wird auf hundert Jahre verschoben, wenn es dir innerhalb dieser Frist gelingt, in einem Manuskript von Schlicht auch nur eine halbe Seite zu entziffern.”


Bei der Gelegenheit möchte ich gleich ein wahres Erlebnis einflechten, das nicht nur tatsächlich wahr, sondern auch sehr lehrreich ist. In meinem reichbewegten Wanderleben wohnte ich auch einmal längere Zeit in Dresden in dem bekannten Weißen Schloß, einem großen Pensionat. Bei Tisch hatte ich meinen Platz neben einer nicht mehr jungen, aber dafür sehr jungfräulichen Baronesse, die in der Nähe von Mitau auf einem großen Gut zu Hause war und die auf die Graphologie schwur. Die Baronesse erzählte mir Wunderdinge von einer Dresdner Graphologin, die, wie ich ausdrücklich betone, als gerichtlich vereidigte Sachverständige bei vielen Prozessen, wenn es sich um die Prüfungen der Handschriften handelte, zu Rate gezogen wurde, und die Baronesse bat mich immer wieder, mir auch meine Handschrift deuten und mir aus der meinen wahren Charakter usw. erklären zu lassen. Lange sträubte ich mich dagegen, denn ich war mit der Selbsttäuschung, in der ich mich über mich selbst befand, sehr zufrieden. Was sollte ich mir da erst sagen lassen, daß ich gar nicht der sei, für den ich mich bisher hielt und warum sollte ich für die Enttäuschung, die ich totsicher erleben würde, auch noch bares Geld ausgeben? Ich sträubte mich deshalb lange, aber endlich gab ich den Bitten der Baronesse doch nach und ich werde nie das mehr als enttäuschte Gesicht vergessen, mit dem sie eines Tages von der gerichtlich vereidigten Graphologin zurückkam. Ich hatte der weisen Frau eine Seite eines alten Manuskriptes zur Prüfung übergeben lassen und sie hatte sich drei Tage Zeit ausgebeten, um meine mehr als eigenartige Schrift eingehend zu prüfen und um ihr späteres Urteil ausführlich begründen zu können. Was in dieser Beurteilung alles drin stand, weiß ich nicht mehr, ich erinnere nur so viel, daß ich es auf Grund meiner Handschrift nie in meinem Leben zu etwas bringen würde, da es mir an jeglichem Fleiß und an jeglicher Ausdauer fehle. Und dabei hatte ich damals schon mehr als siebzig Bücher geschrieben, die meinen Namen bekannt gemacht hatten und mein mit Franz von Schönthan verfaßtes Lustspiel „Im bunten Rock” war damals bereits über sämtliche Bühnen gegangen.

Bei der Gelegenheit möchte ich gleich ein wahres Erlebnis einflechten, das nicht nur tatsächlich wahr, sondern auch sehr lehrreich ist. In meinem reichbewegten Wanderleben wohnte ich auch einmal längere Zeit in Dresden in einem großen Pensionat. Bei Tisch hatte ich meinen Platz neben einer nicht mehr jungen, aber dafür sehr jungfräulichen Baronesse, die in der Nähe von Mitau auf einem großen Gut zu Hause war und die auf die Graphologie schwur. Die Baronesse erzählte mir Wunderdinge von einer Dresdner Graphologin, die, wie ich ausdrücklich betone, als gerichtlich vereidigte Sachverständige bei vielen Prozessen, wenn es sich um die Prüfungen der Handschriften handelte, zu Rate gezogen wurde, und die Baronesse bat mich immer wieder, mir auch meine Handschrift deuten und mir aus der meinen wahren Charakter usw. erklären zu lassen. Lange sträubte ich mich dagegen, denn ich war mit der Selbsttäuschung, in der ich mich über mich selbst befand, sehr zufrieden. Was sollte ich mir da erst sagen lassen, daß ich gar nicht der sei, für den ich mich bisher hielt und warum sollte ich für die Enttäuschung, die ich totsicher erleben würde, auch noch bares Geld ausgeben? Ich sträubte mich deshalb lange, aber endlich gab ich den Bitten der Baronesse doch nach und ich werde nie das mehr als enttäuschte Gesicht vergessen, mit dem sie eines Tages von der gerichtlich vereidigten Graphologin zurückkam. Ich hatte der weisen Frau eine Seite eines alten Manuskriptes zur Prüfung übergeben lassen und sie hatte sich drei Tage Zeit ausgebeten, um meine mehr als eigenartige Schrift eingehend zu prüfen und um ihr späteres Urteil ausführlich begründen zu können. Was in dieser Beurteilung alles drin stand, weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur so viel, daß ich es auf Grund meiner Handschrift nie in meinem Leben zu etwas bringen würde, da es mir an jeglichem Fleiß und an jeglicher Ausdauer fehle. Und dabei hatte ich damals schon mehr als siebzig Bücher geschrieben, die meinen Namen bekannt gemacht hatten und mein mit Franz von Schönthan verfaßtes Lustspiel „Im bunten Rock” war damals bereits über sämtliche Bühnen gegangen.


Ob schon in meiner Schulzeit die Kunst der Schriftbeurteilung bestand, weiß ich nicht. Wie die Lehrer fortan meine Handschrift beurteilten, war mir Wurst, wenn man in der jetzigen Zeit dieses Wort aussprechen darf, ohne Gefühle zu erwecken, die ich bei dem besten Willen nicht erfüllen kann, denn ich habe zwar selbst wirkliche Wurstgelüste, aber keine Wurst, geschweige denn Würste. Wie gesagt, ich schmierte drauflos und war auch sonst ein Schüler, der sich durch keinen übertriebenen Fleiß auszeichnete, der aber doch seine Pflicht tat, schon um baldmöglichst mit der mir verhaßten Schule fertig zu werden. Und doch blieb ich in der Quarta sitzen. Warum? Ich war verliebt in eine Schulfreundin meiner Schwester, der ich eines Tages einen Liebesbrief für die Angebetete meines Quartanerherzens mitgab, eine Tatsache, die ich hinterher bitter bereute, denn meine Schwester beging die unglaubliche Dummheit, den Brief in die äußere Tasche ihres Jaketts zu stecken. Aus diesem Versteck lugte mein Brief hervor, als der Geschichtslehrer, der unglücklicherweise mein Klassenlehrer war, in der Töchterschule an der abgelegten Garderobe vorbei in das Schulzimmer ging. Woher der Mann die Unverschämtheit nahm, den Brief aus der Tasche zu ziehen, weiß ich nicht. Genug, er zog, er erkannte auf dem Kuvert meine Handschrift, er öffnete den Brief, er las das verliebte Liebesgestammel eines verliebten Quartanerherzens, und als es Ostern zur Versetzung kommen sollte, ließ er mich sitzen, weil mir für die Untertertia, wie es in dem Zeugnis so schön hieß, vorläufig noch die sittliche Reife fehle. Ein ganzes Lebensjahr hat mich dieser mein erster Liebesbrief gekostet, denn halbjährige Versetzungen gab es damals bei uns in den unteren Klassen noch nicht. Ein ganzes Jahr hatte ich Zeit, über meinen ersten Liebesbrief nachzudenken und es ist nur ein Glück, daß ich nicht auch für jeden weiteren Liebesbrief, den ich im Laufe der Jahre teils mit, teils ohne Erfolg, aber doch sehr oft mit Erfolg schrieb – ach ja, hätte ich auch da für jeden Brief ein Jahr nachsitzen müssen, dann säße ich heute sicher wieder in der untersten Klasse der Vorschule und ginge mit dem Ränzel auf dem Rücken und mit der Schiefertafel in der Hand wieder in den Kindergarten, trotz meiner fünfzig Jahre.

Ob schon in meiner Schulzeit die Kunst der Schriftbeurteilung bestand, weiß ich nicht. Wie die Lehrer fortan meine Handschrift beurteilten, war mir Wurst.



Ich schmierte drauflos und war auch sonst ein Schüler, der sich durch keinen übertriebenen Fleiß auszeichnete, der aber doch seine Pflicht tat, schon um baldmöglichst mit der verhaßten Schule fertig zu werden. Und doch blieb ich in der Quarta sitzen. Warum? Ich war verliebt in eine Schulfreundin meiner Schwester, der ich eines Tages einen Liebesbrief für die Angebetete meines Quartanerherzens mitgab, eine Tatsache, die ich hinterher bitter bereute, denn meine Schwester beging die unglaubliche Dummheit, den Brief in die äußere Tasche ihres Jaketts zu stecken. Aus diesem Versteck lugte mein Brief hervor, als der Geschichtslehrer, der unglücklicherweise mein Klassenlehrer war, in der Töchterschule an der abgelegten Garderobe vorbei in das Schulzimmer ging. Woher der Mann die Unverschämtheit nahm, den Brief aus der Tasche zu ziehen, weiß ich nicht. Genug, er zog, er erkannte auf dem Kuvert meine Handschrift, er öffnete den Brief, er las das verliebte Liebesgestammel eines verliebten Quartanerherzens, und als es Ostern zur Versetzung kommen sollte, ließ er mich sitzen, weil mir für die Untertertia, wie es in dem Zeugnis so schön hieß, vorläufig noch die sittliche Reife fehle. Ein ganzes Lebensjahr hat mich dieser mein erster Liebesbrief gekostet, denn halbjährige Versetzungen gab es damals bei uns in den unteren Klassen noch nicht. Ein ganzes Jahr hatte ich Zeit, über meinen ersten Liebesbrief nachzudenken und es ist nur ein Glück, daß ich nicht auch für jeden weiteren Liebesbrief, den ich im Laufe der Jahre teils mit, teils ohne Erfolg, aber doch sehr oft mit Erfolg schrieb – ach ja, hätte ich auch da für jeden Brief ein Jahr nachsitzen müssen, dann säße ich heute sicher noch in der untersten Klasse der Vorschule und ginge mit dem Ränzel auf dem Rücken und mit der Schiefertafel in der Hand wieder in den Kindergarten.


Daß diese Liebesbriefepisode nicht sehr viel dazu beitrug, mir die Schule beliebt zu machen.brauche ich wohl nicht erst zu sagen. Dazu kam, daß bei uns im Gymnasium, wenn ich mich richtig besinne, selbst bis zur Obertertia hinauf, wo man ja noch geduzt wurde, barbarisch mit den dicken Rohrstöcken gearbeitet wurde. Wie sich die Zeiten ändern! Wenn es heute ein Lehrer wagt, einen Schüler stark zu züchtigen, gibt es in der Öffentlichkeit einen großen Skandal und in allen Zeitungen wird der Fall erörtert. Wenn wir früher mit dem mehrzölligen Stock fünfundzwanzig bis fünfzig hinten vor bekamen, daß man die nächsten drei Tage auf dem Bauche sitzen mußte, krähte kein Hahn und kein Huhn danach. Und daß wenigstens einer von uns jeden Tag übergelegt und verprügelt wurde, war für uns ganz selbstverständlich, wohl weniger, weil wir alle miteinander Sünder waren, sondern weil es vielleicht dem Lehrer Vergnügen machte. Ich selber habe unbegreiflicherweise nie etwas in der Schule auf den Hosenboden bekommen, dagegen zu wiederholten Malen von unserem Mathematiklehrer vom hohen Katheder herab mit dem dicken Rohrstock fünfundzwanzig in die Hände, zwölf in die eine und dreizehn in die andere. Das tat bestialisch weh und die Hände und die Finger waren hinterher so dick angeschwollen, daß man zuhause wie ein kleines Kind gefüttert werden mußte, weil man weder Gabel noch Messer halten konnte.

Daß diese Liebesbriefepisode nicht sehr viel dazu beitrug, mir die Schule beliebt zu machen.brauche ich wohl nicht erst zu sagen. Dazu kam, daß bei uns im Gymnasium, wenn ich mich richtig besinne, selbst bis zur Obertertia hinauf, wo man ja noch geduzt wurde, barbarisch mit den dicken Rohrstöcken gearbeitet wurde. Wie sich die Zeiten ändern! Wenn es heute ein Lehrer wagt, einen Schüler stark zu züchtigen, gibt es in der Öffentlichkeit einen großen Skandal und in allen Zeitungen wird der Fall erörtert. Wenn wir früher mit dem mehrzölligen Stock fünfundzwanzig bis fünfzig hinten vor bekamen, daß man die nächsten drei Tage auf dem Bauche sitzen mußte, krähte kein Huhn und kein Hahn danach. Und daß wenigstens einer von uns jeden Tag übergelegt und verprügelt wurde, war für uns ganz selbstverständlich, wohl weniger, weil wir alle miteinander Sünder waren, sondern weil es vielleicht dem Lehrer Vergnügen machte. Ich selber habe unbegreiflicherweise nie etwas in der Schule auf den Hosenboden bekommen, dagegen zu wiederholten Malen von unserem Mathematiklehrer vom hohen Katheder herab mit dem dicken Rohrstock fünfundzwanzig in die Hände, zwölf in die eine und dreizehn in die andere. Das tat bestialisch weh und die Hände und die Finger waren hinterher so dick angeschwollen, daß man zuhause wie ein kleines Kind gefüttert werden mußte, weil man weder Gabel noch Messer halten konnte.


Ja ja, wir hatten es bei unseren Lehrern, wenigstens bei einigen von ihnen nicht immer leicht und einer von ihnen, unser neuer Religionslehrer in der Untersekunda, den wir schon deshalb bewunderten und anstaunten, weil er der einzige Reserveoffizier im ganzen Lehrerkollegium war, hat es sogar verstanden, mir den Beruf zu verekeln, den ich zu ergreifen viele Jahre lang als Schüler fest entschlossen war. Ich wollte nämlich ursprünglich Theologe und Prediger werden. Wer meine Bücher und mich selbst kennt, wird vielleicht darüber lachen, aber es war mir damit heiliger Ernst. Meine Lieblingslektüre war die Bibel, wohl weniger aus Frömmigkeit, sondern weil mich die Schönheit der Sprache und weil mich die Lektüre als solche immer wieder fesselte. Und ich träumte davon, ein Geistlicher zu werden und selbst Gottes Wort zu lehren, auch dieses weniger aus großer Frömmigkeit heraus, als weil es mich lockte, durch meine Predigten zu anderen Menschen zu sprechen und mich selbst und meine Zuhörer durch meine Predigten zu berauschen . . . Jahrelang war ich fest entschlossen, Theologie zu studieren, bis unser neuer Religionslehrer, der Herr Leutnant d. R., dahinter kam, daß ich Schiller und Goethe, trotzdem ich soviel in der Bibel las, fester und besser in meinem Schädel hatte, als den Stammbaum von Vater Abraham. Und mit solchen Unkenntnissen dachte ich daran, später Geistlicher zu werden! Ich sehe das entrüstete Gesicht meines Lehrers noch vor mir, ich höre noch seine donnernde Strafrede, die mit der strengen Weisung schloß, mich innerhalb der nächsten acht Tage in jeder freien Minute einzig und allein mit Abrahams Stammbaum zu beschäftigen. Ich tat es, weil ich es tun mußte, ich habe acht Tage später auch das Frage- und Antwortspiel sehr gut bestanden, ich blieb über Abraham, über seine Sippschaft, Verwandtschaft und Nachkommenschaft nicht die kleinste Antwort schuldig, aber als mir der Lehrer hinterher, gewissermaßen zur Belohnung, erklärte, jetzt erst sei ich würdig, später Theologe zu werden, da war mir inzwischen die Lust daran vergangen und so ist Vater Abraham bis zu einem gewissen Grade Schuld und Veranlassung geworden, daß ich heute keine Predigten halte und keine theologischen Bücher schreibe, sondern daß ich Humoresken und mehr oder weniger lustige Bücher verfasse. Aber daß ich es jemals dahin bringen würde, ahnte mein Herz damals natürlich noch nicht. Vorläufig galt es die schwere Frage zu entscheiden: was ich nun werden solle? Die Wahl war schwer und selbst ein kleines Erlebnis im Schleswiger Stadttheater half mir nicht, die Frage zu lösen. Dort war ich einmal in einer Vorstellung, in der auf der Bühne der Vater über den mißratenen Sohn jammerte und klagte und der immer wieder tief ergriffen die Frage stellte: „Was nun? Was soll nun noch aus dir werden?” Der Vater auf der Bühne wußte es anscheinend selbst nicht und wir im Publikum saßen tief ergriffen da und warteten auf die Lösung. Aber als der Vater auf der Bühne nun nochmals mit dem Jammer von vorn anfing und abermals die Frage stellte: „Was nun?” da ertönte von der Galerie herab der laute Ruf: „Lat dat Aas doch Agent warden!” Und donnernder Beifall von allen Seiten des Hauses dankte es dem Rufer, daß er einen so praktischen Ausweg gefunden hatte.

Ja ja, wir hatten es bei unseren Lehrern, wenigstens bei einigen von ihnen nicht immer leicht und einer von ihnen, unser neuer Religionslehrer in der Untersekunda, den wir schon deshalb bewunderten und anstaunten, weil er der einzige Reserveoffizier im ganzen Lehrerkollegium war, hat es sogar verstanden, mir den Beruf zu verekeln, den ich zu ergreifen viele Jahre lang als Schüler fest entschlossen war. Ich wollte nämlich ursprünglich Theologe und Prediger werden. Wer meine Bücher und mich selbst kennt, wird vielleicht darüber lachen, aber es war mir damit heiliger Ernst. Meine Lieblingslektüre war die Bibel, wohl weniger aus Frömmigkeit, sondern weil mich die Schönheit der Sprache und weil mich die Lektüre als solche immer wieder fesselte. Und ich träumte davon, ein Geistlicher zu werden und selbst Gottes Wort zu lehren, auch dieses weniger aus großer Frömmigkeit heraus, als weil es mich lockte, durch meine Predigten zu anderen Menschen zu sprechen und mich selbst und meine Zuhörer durch meine Predigten zu berauschen . . . Jahrelang war ich fest entschlossen, Theologie zu studieren, bis unser neuer Religionslehrer, der Herr Leutnant d. R., dahinter kam, daß ich Schiller und Goethe, trotzdem ich soviel in der Bibel las, fester und besser in meinem Schädel hatte, als den Stammbaum von Vater Abraham. Und mit solchen Unkenntnissen dachte ich daran, später Geistlicher zu werden! Ich sehe das entrüstete Gesicht meines Lehrers noch vor mir, ich höre noch seine donnernde Strafrede, die mit der strengen Weisung schloß, mich innerhalb der nächsten acht Tage in jeder freien Minute einzig und allein mit Abrahams Stammbaum zu beschäftigen. Ich tat es, weil ich es tun mußte, ich habe acht Tage später auch das Frage- und Antwortspiel sehr gut bestanden, ich blieb über Abraham, über seine Sippschaft, Verwandtschaft und Nachkommenschaft nicht die kleinste Antwort schuldig, aber als mir der Lehrer hinterher, gewissermaßen zur Belohnung, erklärte, jetzt erst sei ich würdig, später Theologe zu werden, da war mir inzwischen die Lust daran vergangen und so ist Vater Abraham bis zu einem gewissen Grade Schuld und Veranlassung geworden, daß ich heute keine Predigten halte und keine theologischen Bücher schreibe, sondern daß ich Humoresken und mehr oder weniger lustige Bücher verfasse. Aber daß ich es jemals dahin bringen würde, ahnte mein Herz damals natürlich noch nicht. Vorläufig galt es die schwere Frage zu entscheiden: was ich nun werden solle? Die Wahl war schwer und selbst ein kleines Erlebnis im Schleswiger Stadttheater half mir nicht, die Frage zu lösen. Dort war ich einmal in einer Vorstellung, in der auf der Bühne der Vater über den mißratenen Sohn jammerte und klagte und der immer wieder tief ergriffen die Frage stellte: „Was nun? Was soll nun noch aus dir werden?” Der Vater auf der Bühne wußte es anscheinend selbst nicht und wir im Publikum saßen tief ergriffen da und warteten auf die Lösung. Aber als der Vater auf der Bühne nun nochmals mit dem Jammer von vorn anfing und abermals die Frage stellte: „Was nun?” da ertönte von der Galerie herab der laute Ruf: „Lat dat Aas doch Agent warden!” Und donnernder Beifall von allen Seiten des Hauses dankte es dem Rufer, daß er einen so praktischen Ausweg gefunden hatte.


Ach ja, das Stadttheater in Schleswig! Das alte Haus ist längst abgerissen, aber in der Erinnerung steht es noch ganz deutlich vor mir. Auch vieler Schauspieler erinnere ich mich noch, so namentlich des jetzigen Wiener Hofschauspielers Georg Reimers, der, soviel ich weiß, in Schleswig seine Bühnenlaufbahn begann und der, einem wohlhabenden Hause entstammend, durch seine große schöne Erscheinung, durch seine sehr guten Anzüge und nicht zuletzt durch seinen großen Neufundländer, der nicht von seiner Seite wich, die Sensation des Städtchens bildete. Auch sonst waren ganz gute Kräfte engagiert, aber der Besuch des Theaters war miserabel. Bevor der Vorhang sich hob, gab es drei Stücke Musik, ausgeführt von den Mitgliedern der Infanterie-Regimentskapelle, die damals unter der Leitung des Kapellmeisters Mohrbutter stand, dessen Sohn, mein ehemaliger Schulkamerad, es inzwischen zu einem berühmten Maler gebracht hat. Wenn die drei Stücke vorüber waren, sollte das Spiel auf der Bühne beginnen, aber wie oft habe ich es nicht erlebt, daß sich nach dem dritten Stück die Tür zu dem Orchester öffnete und daß ein Junge seinen Kopf hereinsteckte, um den Musikern zuzurufen: „Der Direktor läßt seggen: noch een Stück Musik.” Und dann spielten die Musikanten noch ein Stück und dann noch eins, während der Direktor im stillen hoffte, es möge sich inzwischen Publikum einfinden, wenigstens mehr Publikum, als die drei oder vier Menschen, die bis jetzt da waren. Aber das Publikum kam nicht, wir bekamen das Geld an der Kasse zurück und zogen betrübt nach Hause. Ausverkauft war das Theater nur, wenn alljährlich die früher am Hamburger Thaliatheater engagierte und außerordentlich beliebte Salondame Anna Rossi, die der bekannten Mecklenburger Künstlerfamilie entstammte, in Schleswig gastierte. Wie habe ich als Schüler für Anna Rossi geschwärmt! Ich habe sie sogar heiraten wollen, obgleich ich damals erst zwölf Jahre alt war. Ich habe sie angehimmelt, wenn sie bei ihren Gastspielen zu meiner Mutter in das Haus kam. Aber geheiratet habe ich sie doch nicht, dafür habe ich aber, als sie später einen hohen aktiven Offizier heiratete, bei dem Hochzeitsmahl, ebenfalls noch als Schüler, den ersten Toast auf das neuvermählte Paar ausbringen dürfen.

Ach ja, das Stadttheater in Schleswig! Das alte Haus ist längst abgerissen, aber in der Erinnerung steht es noch ganz deutlich vor mir. Auch vieler Schauspieler erinnere ich mich noch, so namentlich des jetzigen Wiener Hofschauspielers Georg Reimers, der, soviel ich weiß, in Schleswig seine Bühnenlaufbahn begann und der, einem wohlhabenden Hause entstammend, durch seine große schöne Erscheinung, durch seine sehr guten Anzüge und nicht zuletzt durch seinen großen Neufundländer, der nicht von seiner Seite wich, die Sensation des Städtchens bildete. Auch sonst waren ganz gute Kräfte engagiert, aber der Besuch des Theaters war miserabel. Bevor der Vorhang sich hob, gab es drei Musikstücke, ausgeführt von den Mitgliedern der Infanterie-Regimentskapelle, die damals unter der Leitung des Kapellmeisters Mohrbutter stand, dessen Sohn, mein ehemaliger Schulkamerad, es inzwischen zu einem berühmten Maler gebracht hat. Wenn die drei Stücke vorüber waren, sollte das Spiel auf der Bühne beginnen, aber wie oft habe ich es nicht erlebt, daß sich nach dem dritten Stück die Tür zu dem Orchester öffnete und daß ein Junge seinen Kopf hereinsteckte, um den Musikern zuzurufen: „Der Direktor läßt seggen: noch een Stück Musik.” Und dann spielten die Musikanten noch ein Stück und dann noch eins, während der Direktor im stillen hoffte, es möge sich inzwischen Publikum einfinden, wenigstens mehr Publikum, als die drei oder vier Menschen, die bis jetzt da waren. Aber das Publikum kam nicht, wir bekamen das Geld an der Kasse zurück und zogen betrübt nach Hause. Ausverkauft war das Theater nur, wenn alljährlich die früher am Hamburger Thaliatheater engagierte und außerordentlich beliebte Salondame Anna Rossi, die der bekannten Mecklenburger Künstlerfamilie entstammte, in Schleswig gastierte. Wie habe ich als Schüler für Anna Rossi geschwärmt! Ich habe sie sogar heiraten wollen, obgleich ich damals erst zwölf Jahre alt war. Ich habe sie angehimmelt, wenn sie bei ihren Gastspielen zu meiner Mutter in das Haus kam. Aber geheiratet habe ich sie doch nicht, dafür habe ich aber, als sie später einen hohen aktiven Offizier heiratete, bei dem Hochzeitsmahl, ebenfalls noch als Schüler, den ersten Toast auf das neuvermählte Paar ausbringen dürfen.


Nein, Schleswig war keine Theaterstadt und auch die Konzertgeber, die nach dort kamen, hatten nichts zu lachen. Ich entsinne mich des Konzertes zweier Harfenvirtuosen, Mann und Frau. Für die Harfe habe ich von Jugend auf eine Vorliebe gehabt, Harfe und Geige sind noch heute meine Lieblingsinstrumente, so bat ich meine Mutter um Erlaubnis, das Konzert besuchen zu dürfen. Im allerletzten Augenblick gelang es mir, ihr die Mark, oder was das Schülerbillett sonst kostete, zu entlocken. Ich stürmte davon, um nicht viel zu spät zu kommen, denn nach meiner Ansicht mußte das Konzert schon begonnen haben. Ich lief, so schnell ich nur laufen konnte, atemlos kam ich an, aber als ich den Saal betrat, herrschte dort Totenstille. Der große Saal war leer, kein Licht brannte, nur eine einzige halbaufgedrehte Gasflamme beleuchtete die beiden Harfen, die einsam und verlassen auf der Bühne standen. Kein Mensch war da, nur ein halber und das war ich.

Nein, Schleswig war keine Theaterstadt und auch die Konzertgeber, die nach dort kamen, hatten nichts zu lachen. Ich entsinne mich des Konzertes zweier Harfenvirtuosen, Mann und Frau. Für die Harfe habe ich von Jugend auf eine Vorliebe gehabt, Harfe und Geige sind noch heute meine Lieblingsinstrumente, so bat ich meine Mutter um Erlaubnis, das Konzert besuchen zu dürfen. Im allerletzten Augenblick gelang es mir, ihr die Mark, oder was das Schülerbillett sonst kostete, zu entlocken. Ich stürmte davon, um nicht viel zu spät zu kommen, denn nach meiner Ansicht mußte das Konzert schon begonnen haben. Ich lief, so schnell ich nur laufen konnte, atemlos kam ich an, aber als ich den Saal betrat, herrschte dort Totenstille. Der große Saal war leer, kein Licht brannte, nur eine einzige halbaufgedrehte Gasflamme beleuchtete die beiden Harfen, die einsam und verlassen auf der Bühne standen. Kein Mensch war da, nur ein halber, und das war ich.


Es kam auch keiner mehr und so fiel das Konzert selbstverständlich aus. Auf dieser Konzertbühne habe ich ein paar Jahre später zum letztenmal den einst so berühmten und gefeierten Veilchenfresser Karl Mitell vom Hamburger Thaliatheater, nur noch ein Schatten seiner selbst, fast erblindet, mit einer Binde vor dem einen Auge, gesehen. Er spielte in dem Einakter „Der Zigeuner und seine Geige”, aber es war so traurig und ergreifend, seinem Spiel zuzusehen, daß sich kaum ein Beifall hervorwagte. Wenige Wochen später erbarmte sich der Himmel dann seiner und machte seinem traurigen Lebensabend ein Ende. Um so mehr aber tobte in demselben Saal der Beifallssturm, als der damals ganz frisch vom Hofrat Pollini in Hamburg entdeckte und ausgebildete Heinrich Bötel sein hohes C-Konzert gab. Solche Beifallsstürme wie Bötel, den ich später als Schüler noch oft in Hamburg-Altona auf der Bühne hörte, mit seinem hohen C entfesselte, habe ich selbst viel später in Berlin bei den Caruso-Abenden nicht wieder erlebt.

Es kam auch keiner mehr und so fiel das Konzert selbstverständlich aus. Auf dieser Konzertbühne habe ich ein paar Jahre später zum letztenmal den einst so berühmten und gefeierten Veilchenfresser Karl Mitell vom Hamburger Thaliatheater, nur noch ein Schatten seiner selbst, fast erblindet, mit einer Binde vor dem einen Auge, gesehen. Er spielte in dem Einakter „Der Zigeuner und seine Geige”, aber es war so traurig und ergreifend, seinem Spiel zuzusehen, daß sich kaum ein Beifall hervorwagte. Wenige Wochen später erbarmte sich der Himmel dann seiner und machte seinem traurigen Lebensabend ein Ende. Um so mehr aber tobte in demselben Saal der Beifallssturm, als der damals ganz frisch vom Hofrat Pollini in Hamburg entdeckte und ausgebildete Heinrich Bötel sein hohes C-Konzert gab. Solche Beifallsstürme wie Bötel, den ich später als Schüler noch oft in Hamburg-Altona auf der Bühne hörte, mit seinem hohen C entfesselte, habe ich selbst viel später in Berlin bei den Caruso-Abenden nicht wieder erlebt.


Aber daß in meiner Vaterstadt an Konzerten, oder sonst überhaupt etwas los war, kam selten vor. Man lebte still und ruhig dahin und ich besuchte weiter das Gymnasium, bis ich mich dann eines Tages bei meinen Lehrern plötzlich unbeliebt gemacht hatte. Was da eigentlich vorlag, weiß ich nicht mehr, ich kann mich auch trotz allen Grübelns nicht mehr darauf besinnen, ich weiß nur soviel, daß man mich gern losgeworden wäre und dazu bot sich denn auch die Gelegenheit, richtiger gesagt, die Gelegenheit bot ich. Es war an einem Wintertag und wir benutzten die Pause, um uns auf dem Schulhofe zu schneeballen, bis mir plötzlich ein festgeballter und von der Kälte hartgefrorener Ball mit solcher Kraft gegen das linke Auge geflogen kam, daß ich dachte, das Auge würde mir durch den Hinterschädel für alle Zeiten davonfliegen. Ich verspürte einen wahnsinnigen Schmerz, und die Schmerzen sind bekanntlich bei den wenigsten dazu angetan, sie milde und sanft zu stimmen. Ich verwandelte mich jedenfalls in einen rasenden Ajax, und nachdem ich einwandsfrei festgestellt hatte, wer mir diese festgefrorene Eismasse gegen mein Auge geschleudert hatte, stürzte ich mich auf den Kameraden und verhaute ihn mit meinen Fäusten, daß ihm beide Augen überquollen. Meine Lehrer haben hinterher in der Konferenz festgestellt, ich hätte roh und unsittlich gehandelt. Das ist möglich, aber ob auch nur einer meiner Lehrer, wenn er an meiner Stelle gewesen wäre, dem anderen seine intimste Freundschaft angeboten und ihn womöglich noch zu Schokolade mit Schlagsahne eingeladen hätte? Ich glaube es nicht, ich tat es wenigstens nicht. Ich verprügelte den Kameraden weiter bis er nicht mehr konnte und bis er am Boden lag. Da hatte auch ich genug, aber das dicke Ende kam nach. Die Eltern des verprügelten Kameraden verlangten von mir für ihren Sohn ein Schmerzensgeld, das sie natürlich nie bekamen. Von meinen Lehrern aber forderten sie meine Bestrafung, die ich selbstverständlich erhielt, denn sonst gäbe es keine Gerechtigkeit auf der Welt. Warum hatte aber mein Auge auch gerade dem Schneeball im Wege sein müssen, als der durch das Weltall abgeflogen kam? Mein Vergehen war so schwer, daß das ganze Lehrerkollegium zu einer Konferenz zusammengerufen wurde, um über mich zu Gericht zu sitzen und das Urteil war ebenso schwer, wie das Lebendgewicht meiner sämtlichen Lehrer zusammen. Ich erhielt das Consilium abeundi, auf deutsch, den Rat, die Schule zu verlassen und das Gymnasium meiner Vaterstadt von meiner lästerlichen und sündhaften Gegenwart zu befreien, was ich denn auch tat, nachdem ich ein paar Wochen später trotz meiner Sünden oder vielleicht gerade deshalb, um mich los zu werden, nach der Obersekunda versetzt worden war und damit mein Einjährigenzeugnis erhalten hatte.

Aber daß in meiner Vaterstadt an Konzerten oder sonst überhaupt etwas los war, kam selten vor. Man lebte still und ruhig dahin und ich besuchte weiter das Gymnasium, bis ich mich dann eines Tages bei meinen Lehrern plötzlich unbeliebt gemacht hatte. Was da eigentlich vorlag, weiß ich nicht mehr, ich kann mich auch trotz allen Grübelns nicht mehr darauf besinnen, ich weiß nur soviel, daß man mich gern losgeworden wäre und dazu bot sich denn auch die Gelegenheit, richtiger gesagt, die Gelegenheit bot ich. Es war an einem Wintertag und wir benutzten die Pause, um uns auf dem Schulhofe zu schneeballen, bis mir plötzlich ein festgeballter und von der Kälte hartgefrorener Ball mit solcher Kraft gegen das linke Auge geflogen kam, daß ich dachte, das Auge würde mir durch den Hinterschädel für alle Zeiten davonfliegen. Ich verspürte einen wahnsinnigen Schmerz, und die Schmerzen sind bekanntlich bei den wenigsten dazu angetan, sie milde und sanft zu stimmen. Ich verwandelte mich jedenfalls in einen rasenden Ajax, und nachdem ich einwandsfrei festgestellt hatte, wer mir diese festgefrorene Eismasse gegen mein Auge geschleudert hatte, stürzte ich mich auf den Kameraden und verhaute ihn mit meinen Fäusten, daß ihm beide Augen überquollen. Meine Lehrer haben hinterher in der Konferenz festgestellt, ich hätte roh und unsittlich gehandelt. Das ist möglich, aber ob auch nur einer meiner Lehrer, wenn er an meiner Stelle gewesen wäre, dem anderen seine intimste Freundschaft angeboten und ihn womöglich noch zu Schokolade mit Schlagsahne eingeladen hätte? Ich glaube es nicht, ich tat es wenigstens nicht. Ich verprügelte den Kameraden weiter bis er nicht mehr konnte und bis er am Boden lag. Da hatte auch ich genug, aber das dicke Ende kam nach. Die Eltern des verprügelten Kameraden verlangten von mir für ihren Sohn ein Schmerzensgeld, das sie natürlich nie bekamen. Von meinen Lehrern aber forderten sie meine Bestrafung, die ich selbstverständlich erhielt, denn sonst gäbe es keine Gerechtigkeit auf der Welt. Warum hatte aber mein Auge auch gerade dem Schneeball im Wege sein müssen, als der durch das Weltall abgeflogen kam? Mein Vergehen war so schwer, daß das ganze Lehrerkollegium zu einer Konferenz zusammengerufen wurde, um über mich zu Gericht zu sitzen und das Urteil war ebenso schwer, wie das Lebendgewicht meiner sämtlichen Lehrer zusammen. Ich erhielt das Consilium abeundi, auf deutsch, den Rat, die Schule zu verlassen und das Gymnasium meiner Vaterstadt von meiner lästerlichen und sündhaften Gegenwart zu befreien, was ich denn auch tat, nachdem ich ein paar Wochen später trotz meiner Sünden oder vielleicht gerade deshalb, um mich los zu werden, nach der Obersekunda versetzt worden war und damit mein Einjährigenzeugnis erhalten hatte.


Dann packte ich meinen Koffer und reiste davon:

Knopp begab sich weiter fort
Hin zu einem andern Ort,
Hin zu einem, den er kannte,
Der sich Doktor H . . . benannte!

Dieser Doktor H . . . wohnte in Altona, war Oberlehrer und Professor, außerdem durch seine Frau mit mir weitläufig verwandt und verschwägert und hatte eine sehr gut besuchte Knabenpension, die in den weitesten Kreisen dadurch berühmt und beliebt war, daß man in ihr ausgezeichnet zu essen bekam. Die Wahrheit dieses Lobes habe ich zwei Jahre hindurch an meinem eigenen Magen erproben können. Ich habe in meinem späteren Leben, auf meinen vielen Reisen im In- und Auslande, in den allerersten Restaurants oft in der Vollendung gespeist, aber wo ist der Küchenchef, der es mit der Hamburger Köchin aufnimmt, die uns in der Altonaer Pension das Essen kochte? Wo in der Welt gibt es wieder solchen Braten, solchen Saucen, solche Hamburger Roastbeefs? Ich darf jetzt im Kriege bei den kleinen Fleischportionen gar nicht an die Riesenschüsseln denken, die damals aufgetragen wurden, die so groß waren, daß es schien, als könnten sie in Jahr und Tag nicht leer gegessen werden und die trotzdem spätestens in einer Viertelstunde ritzeratzekahl gefuttert waren. In materieller Hinsicht war es in Altona sehr schön, aber in geistiger leider desto unerfreulicher, denn ich mußte sehr bald merken, daß die Anforderungen, die man in Altona an das Wissen der Schüler stellte, viel, aber auch sehr viel höher waren, als in meiner Vaterstadt Schleswig. Das Schlimmste aber, was ich in Altona und überhaupt in meinem Leben kennen gelernt habe, war das deutsch-lateinische Übersetzungsbuch von Süppfle, oder wie er sich sonst schreibt. Diese endlos langen Sätze, die aus unzähligen Relativsätzen bestanden, die in- und durcheinander geschachtelt waren, aus dem Deutschen in das Lateinische zu übersetzen, war eine Arbeit, die nicht nur mir das Leben vergällt und verbittert hat. Ein paar Jahre sind es erst her, daß ich auf einer Reise in Oberbayern in meinem Hotel einen außerordentlich liebenswürdigen katholischen Geistlichen kennen lernte, mit dem ich manchen Abend zusammen verplauderte und der mir einmal davon sprach, wieviel Schweres und Trauriges er in seiner Jugend habe durchmachen müssen, wie ihm schon die Schulzeit verbittert worden sei, und als ich ihn voller Teilnahme fragte, wieso, warum und wodurch, da antwortete er zunächst mit einem Seufzer, der mir durch Mark und Bein ging, dann sagte er: „Ich habe auf der Schule die Süppfleschen deutschen Lesestücke in das Lateinische übersetzen müssen. Aber da Sie das Buch ja doch nicht kennen —”

Dann packte ich meinen Koffer und reiste davon:

Knopp begab sich weiter fort
Hin zu einem andern Ort,
Hin zu einem, den er kannte,
Der sich Doktor H . . . benannte!

Dieser Doktor H . . . wohnte in Altona, war Oberlehrer und Professor, außerdem durch seine Frau mit mir weitläufig verwandt und verschwägert und hatte eine sehr gut besuchte Knabenpension, die in den weitesten Kreisen dadurch berühmt und beliebt war, daß man in ihr ausgezeichnet zu essen bekam. Die Wahrheit dieses Lobes habe ich zwei Jahre hindurch an meinem eigenen Magen erproben können. Ich habe in meinem späteren Leben, auf meinen vielen Reisen im In- und Auslande, in den allerersten Restaurants oft in der Vollendung gespeist, aber wo ist der Küchenchef, der es mit der Hamburger Köchin aufnimmt, die uns in der Altonaer Pension das Essen kochte? Wo in der Welt gibt es wieder solchen Braten, solchen Saucen, solche Hamburger Roastbeefs?



In materieller Hinsicht war es in Altona sehr schön, aber in geistiger leider desto unerfreulicher, denn ich mußte sehr bald merken, daß die Anforderungen, die man in Altona an das Wissen der Schüler stellte, viel, aber auch sehr viel höher waren, als in meiner Vaterstadt Schleswig. Das Schlimmste aber, was ich in Altona und überhaupt in meinem Leben kennen gelernt habe, war das deutsch-lateinische Übersetzungsbuch von Süppfle, oder wie er sich sonst schreibt. Diese endlos langen Sätze, die aus unzähligen Relativsätzen bestanden, die in- und durcheinander geschachtelt waren, aus dem Deutschen in das Lateinische zu übersetzen, war eine Arbeit, die nicht nur mir das Leben vergällt und verbittert hat. Ein paar Jahre sind es erst her, daß ich auf einer Reise in Oberbayern in meinem Hotel einen außerordentlich liebenswürdigen katholischen Geistlichen kennen lernte, mit dem ich manchen Abend zusammen verplauderte und der mir einmal davon sprach, wieviel Schweres und Trauriges er in seiner Jugend habe durchmachen müssen, wie ihm schon die Schulzeit verbittert worden sei, und als ich ihn voller Teilnahme fragte, wieso, warum und wodurch, da antwortete er zunächst mit einem Seufzer, der mir durch Mark und Bein ging, dann sagte er: „Ich habe auf der Schule die Süppfleschen deutschen Lesestücke in das Lateinische übersetzen müssen. Aber da Sie das Buch ja doch nicht kennen —”


„Und ob ich das kenne”, fiel ich ihm in das Wort. Dann erzählte ich ihm von meinem Süppfle, der ja auch der seine war, und wenn wir uns fortan begegneten, sah er mich mit seinen wundervollen dunklen Augen, aus denen eine Welt voll Liebe sprach, mit inniger Teilnahme an und drückte mir wortlos, aber trotzdem beredt die Hand, und sein Händedruck sagte mir immer aufs neue: Nur wir zwei wissen, was wir haben durchmachen müssen.

„Und ob ich das kenne”, fiel ich ihm in das Wort. Dann erzählte ich ihm von meinem Süppfle, der ja auch der seine war, und wenn wir uns fortan begegneten, sah er mich mit seinen wundervollen dunklen Augen, aus denen eine Welt voll Liebe sprach, mit inniger Teilnahme an und drückte mir wortlos, aber trotzdem beredt die Hand, und sein Händedruck sagte mir immer aufs neue: Nur wir zwei wissen, was wir haben durchmachen müssen.


Der Süppfle hatte es in sich und so kam, was kommen mußte. Erst blieb ich einmal ein halbes Jahr in der Obersekunda sitzen und dann noch einmal, bis ich endlich nach der Unterprima versetzt wurde. Selbstverständlich wurde ich dort als zweimal Sitzengebliebener mit dem größten Mißtrauen aufgenommen. Man hielt mich geistig zum mindesten für sehr beschränkt. Das erweckte meinen Trotz und ich sagte mir: „Schön, wenn ihr mich für so dumm haltet, will ich euch beweisen, daß ich sogar noch dümmer bin.” Natürlich trug das nicht dazu bei, das Interesse meiner Lehrer an meinem geistigen Fortkommen zu erhöhen, das war aber auch gar nicht der Zweck der Übung. Ich wollte von der Schule fort, und endlich erreichte ich es denn auch, daß mein Ordinarius, der zugleich mein Direktor war, meiner Mutter schrieb, wenn ich mich nicht ganz ändere, sei keine Aussicht vorhanden, daß ich vor Ablauf der nächsten fünfundzwanzig Jahre zum Abitur zugelassen würde und es sei mehr als fraglich, ob ich es dann bestände. Als meine Mutter den Brief erhielt, verlor sie glücklicherweise endlich die Geduld, weiter für mich Schulgeld zu bezahlen und ich hütete mich, ihr zu helfen, diese Geduld wiederzufinden. Ich verließ die Schule und wartete es gar nicht erst ab, bei der Versetzung nach der Oberprima sitzen zu bleiben. Ich packte erneut meine Koffer und fuhr nach Berlin, um mich auf der Presse für das Fähnrichexamen vorzubereiten, denn den Gedanken, Offizier zu werden, hatte ich längst gefaßt, ohne damals natürlich auch nur zu wissen und zu ahnen, was es heißt, Offizier zu sein. Frohen Mutes fuhr ich nach Berlin, wo es damals zwei berühmte Pressen gab, Pension Killisch mit dem Haustürschlüssel und Pension Killisch ohne Haustürschlüssel(3). Ohne es zu ahnen und selbst­verständlich erst recht, ohne es zu wollen, hatte meine Mutter für mich den Killisch mit dem Haustürschlüssel erwischt und ich muß mir das Zeugnis ausstellen, ohne mich loben zu wollen, daß ich von dem Haustürschlüssel den weitgehendsten Gebrauch gemacht habe. Manchmal ging der sogar soweit, daß ich des Morgens noch gar nicht wieder zu Hause sein konnte, wenn der Unterricht begann. Aber davon abgesehen, war ich wirklich sehr fleißig und habe auch bei dem ersten Termin, der sich mir bot, das Fähnrichexamen gut bestanden. Wenn ich dieses Ziel trotz meines Bummeln so schnell erreichte, verdanke ich das in erster Linie dem verstorbenen Dr. Fischer, der später selbst eine heute noch unter seinem Namen in Berlin existierende Presse errichtete, der damals noch als Lehrer bei Killisch angestellt war und dem ich mit diesen Worten, soweit es mir möglich ist, ein Denkmal der Dankbarkeit und der Liebe errichten möchte. Als Mensch und als Lehrer werde ich ihn niemals vergessen. Als Mensch war er die Liebenswürdigkeit und die Güte selbst, als Lehrer war er von einer beispiellosen Arbeitskraft und er besaß die seltene Gabe, jedem Schüler, selbst dem dümmsten in wenigen Minuten das klar zu machen, was der andere jahrelang vorher nicht hatte begreifen können. So gelang es Dr. Fischer auch, mir in der Mathematik Kenntnisse beizubringen, die für das Fähnrichsexamen ungefähr ausreichten. Ja, ich habe es bei ihm sogar gelernt, Gleichungen mit drei Unbekannten zu lösen. Was darüber war, das konnte allerdings selbst er nicht in meinen Schädel hineinbringen, und die schrecklichsten Träume sind auch heute noch für mich die, in denen ich in der Schule aufgerufen werde, um an die Wandtafel zu treten und um dort eine Gleichung mit zahllosen Unbekannten zu lösen. Wie ein Mensch das überhaupt kann, wird mir ein Rätsel bleiben, so lange ich lebe, und daß ich bis an mein Lebensende keine Gleichungen mehr zu lösen brauche, war die größte Freude, die mich erfüllte, als ich Berlin verließ, um zu meinem Regiment zu fahren, das mich als Fahnenjunker angenommen hatte.


Der Süppfle hatte es in sich und so kam, was kommen mußte. Erst blieb ich einmal ein halbes Jahr in der Obersekunda sitzen und dann noch einmal, bis ich endlich nach der Unterprima versetzt wurde. Selbstverständlich wurde ich dort als zweimal Sitzengebliebener mit dem größten Mißtrauen aufgenommen. Man hielt mich geistig zum mindesten für sehr beschränkt. Das erweckte meinen Trotz und ich sagte mir: „Schön, wenn ihr mich für so dumm haltet, will ich euch beweisen, daß ich sogar noch dümmer bin.” Natürlich trug das nicht dazu bei, das Interesse meiner Lehrer an meinem geistigen Fortkommen zu erhöhen, das war aber auch gar nicht der Zweck der Übung. Ich wollte von der Schule fort, und endlich erreichte ich es denn auch, daß mein Ordinarius, der zugleich mein Direktor war, meiner Mutter schrieb, wenn ich mich nicht ganz ändere, sei keine Aussicht vorhanden, daß ich vor Ablauf der nächsten fünfundzwanzig Jahre zum Abitur zugelassen würde und es sei mehr als fraglich, ob ich es dann bestände. Als meine Mutter den Brief erhielt, verlor sie glücklicherweise endlich die Geduld, weiter für mich Schulgeld zu bezahlen und ich hütete mich, ihr zu helfen, diese Geduld wiederzufinden. Ich verließ die Schule und wartete es gar nicht erst ab, bei der Versetzung nach der Oberprima sitzen zu bleiben. Ich packte erneut meine Koffer und fuhr nach Berlin, um mich auf der Presse für das Fähnrichexamen vorzubereiten, denn den Gedanken, Offizier zu werden, hatte ich längst gefaßt, ohne damals natürlich auch nur zu wissen und zu ahnen, was es heißt, Offizier zu sein. Frohen Mutes fuhr ich nach Berlin, wo es damals zwei berühmte Pressen gab, Pension Killisch mit dem Haustürschlüssel und Pension Killisch ohne Haustürschlüssel. Ohne es zu ahnen und selbstverständlich erst recht, ohne es zu wollen, hatte meine Mutter für mich den Killisch mit dem Haustürschlüssel erwischt und ich muß mir das Zeugnis ausstellen, ohne mich loben zu wollen, daß ich von dem Haustürschlüssel den weitgehendsten Gebrauch gemacht habe. Manchmal ging der sogar soweit, daß ich des Morgens noch gar nicht wieder zu Hause sein konnte, wenn der Unterricht begann. Aber davon abgesehen, war ich wirklich sehr fleißig und habe auch bei dem ersten Termin, der sich mir bot, das Fähnrichexamen gut bestanden. Wenn ich dieses Ziel trotz meines Bummeln so schnell erreichte, verdanke ich das in erster Linie dem verstorbenen Dr. Fischer, der später selbst eine heute noch unter seinem Namen in Berlin existierende Presse errichtete, der damals noch als Lehrer bei Killisch angestellt war und dem ich mit diesen Worten, soweit es mir möglich ist, ein Denkmal der Dankbarkeit und der Liebe errichten möchte. Als Mensch und als Lehrer werde ich ihn niemals vergessen. Als Mensch war er die Liebenswürdigkeit und die Güte selbst, als Lehrer war er von einer beispiellosen Arbeitskraft und er besaß die seltene Gabe, jedem Schüler, selbst dem dümmsten in wenigen Minuten das klar zu machen, was der andere jahrelang vorher nicht hatte begreifen können. So gelang es Dr. Fischer auch, mir in der Mathematik Kenntnisse beizubringen, die für das Fähnrichsexamen ungefähr ausreichten. Ja, ich habe es bei ihm sogar gelernt, Gleichungen mit drei Unbekannten zu lösen. Was darüber war, das konnte allerdings selbst er nicht in meinen Schädel hineinbringen, und die schrecklichsten Träume sind auch heute noch für mich die, in denen ich in der Schule aufgerufen werde, um an die Wandtafel zu treten und um dort eine Gleichung mit zahllosen Unbekannten zu lösen. Wie ein Mensch das überhaupt kann, wird mir ein Rätsel bleiben, so lange ich lebe, und daß ich bis an mein Lebensende keine Gleichungen mehr zu lösen brauche, war die größte Freude, die mich erfüllte, als ich Berlin verließ, um zu meinem Regiment zu fahren, das mich als Fahnenjunker angenommen hatte.




Fußnoten:

(1) Wolf Graf von Baudissin wurde am 30.Jan. 1867 in Schleswig geboren und am 10.März 1867 getauft. (Kirchenbücher des Schleswiger Doms.) – ( zurück )

(2) Am 16. Febr. 1889 wurde Port.Fähnr. Graf Baudissin zum Sekonde-Lieutenant im 2. Hanseat.Inf.Rgt.76 befördert. (Militär-Wochenblatt) ( zurück )

(3) Es handelt sich um die Militärischen Pädagogien:
– J.Killisch, Dr.phil., Prof., Direktor und Inh. eines milit. Pädagog., Berlin N, Schönhauser Allee  133 I
und
– P.Killisch, Dirigent des Berliner Milit. Pädagog. u. Prem.Ltnant. d.Landw., Berlin W, Körnerstr. 7 Pt.
Berliner Adressbuch 1887
Eine Spiegelung dieser Verhältnisse findet sich in der Humoreske „Ein Pfingstausflug”. (zurück)


Oben.jpg - 455 Bytes
zurück zu
Schlicht's Seite
rechts.jpg - 462 Bytes
zum zweiten
Kapitel

© Karlheinz Everts