"Rumpelstilzchen"

"Sie wer'n lachen"
(Jahrgangsband 1933/34)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 34 - 36
3. bis 17. Mai 1934


34

Auf der Volksfestwiese - Tritt gefaßt! - Die "Wacht am Rhein" - Neues von Käte Kruse - Revuetänzerinnen gesucht - Bei der Probe - Die Höflichkeit ist da.

Am Tage nach dem Maifest ein Blick von der Hochtribüne auf das Tempelhofer Feld: das sieht nun wie eine dicht mit Krokusblüten besetzte Riesenwiese im Frühling aus.

Nur wenn man ganz nahe an den verlassenen Lager- und Standplatz der Millionenarmee Berlins herangeht, merkt man das Unaufgeräumte, merkt man, daß es eben unzählige Stullenpapiere, dazu Blechbüchsen, Flaschen, Pappbecher sind, die das Blütenmeer auf dem Grün vortäuschen. Ein Volk hat hier gerastet, nicht etwa nur die halbe Einwohnerschaft einer Stadt, die allein schon mehr als die Gesamtbevölkerung einzelner Staaten beträgt, etwa Estlands oder Lettlands.

Der Eindruck am 1. Mai selbst ist ganz ungeheuer gewesen.

Man hat ja als Reichshauptstädter viel gesehen, aber so etwas denn doch nicht. Daß der Aufmarsch bis in die kleinste Kleinigkeit durchdacht und geordnet war, so daß es kein Massenunglück wie 1883 bei der Feier der Zarenkrönung auf dem Chodynkafelde in Moskau, ja nicht einmal einen einzigen ernstlichen Unfall gab, ist nicht die Hauptsache. Wir nehmen es auch als selbstverständlich hin, daß der Aufbau der Tribüne mit den 45 Meter hohen starren Reichsflaggen dahinter als Abschluß und der ragenden Redekanzel davor wuchtig war, daß der Blick zuerst an im Vordergrunde schnurgerade aufmarschierten Bataillonen der Reichswehr, der Göring-Polizei, des Arbeitsdienstes, der technischen Nothilfe, der Schutzstaffeln und Sturmabteilungen haften blieb und sich dann in die Unendlichkeit der staubumflimmerten Volksmenge verlor.

Wir wissen, daß die Führeransprache unmittelbar an eine darnach lechzende millionenköpfige Zuhörerschaft ohne moderne Technik, ohne den Lautsprecher, nicht denkbar gewesen wäre. Die richtige Ausnutzung aller heutigen Möglichkeiten der Werbung, mit Flugzeug und Radio und allem sonstigen, ist Vorbedingung derartiger Erfolge, wie es die Maifeier oder die Wahlen der letzten Jahre waren, natürlich, nachdem die Werbung von Mann zu Mann, von Mund zu Mund vorhergegangen ist; an dem mangelnden Verständnis für Propaganda und an dem Fehlen der Mittel hierfür ist das Zweite Reich doch zerbrochen.

Aber das eigentlich Imponierende an diesem 1. Mai war nicht die Massenhaftigkeit, sondern - die Geschlossenheit. Das treffendste Wort, das darüber auf dem Tempelhofer Felde gesagt worden ist, lautet, daß die Nation "Tritt gefaßt" habe. Was einst zuchtlose Haufen waren, das sind jetzt im Gleichschritt marschierende Kameraden. Es ist von symbolhafter Bedeutung, daß der preußische Ministerpräsident sich am Wedding in Berlin N in die Reihen der dortigen Arbeiter gestellt und mit ihnen zu Fuß den stundenlangen Weg nach Berlin S gemacht hat. Unser Volk ist wieder ein Heer, wenn auch ohne Waffen. Man hat im ganzen Reiche bis ins einsamste Waldwärterhäuschen hinein die emporreißende Rede Hitlers mithören können. Aber man muß diese geballte Kraft der Nation, diese stählerne neue Disziplin mit eigenen Augen gesehen haben, dann erst glaubt man an das Wunder der Wiedergeburt.

Dabei den ganzen heißen Tag hindurch alles auf den Beinen. Morgens im Lustgarten, abends im Lustgarten. Dazwischen die Feier in der Staatsoper, wo Goebbels die Erteilung des großen Dichterpreises an meinen lieben Kriegsfliegerkameraden Richard Euringer verkündete, und die Kundgebung auf dem alten Paradefelde der Berliner Garnison, wo Hitler zu den Berlinern, zu den Deutschen, zu de Welt sprach. Schon um 7 Uhr morgens überall Marschmusik. Ich begegne, bevor ich zur Staatsoper fahre, unter anderem den Zweitausend aus dem Saargebiet, die zum Maitag hergekommen sind. Voran in Zwölferreihen die Bergleute in ihrer historischen Tracht.

Und was sie singen, das treibt einem fast das Wasser in die Augen: Lieb' Vaterland, magst ruhig sein, fest steht und treu die Wacht am Rhein!

Seit langen Jahren hört man das wieder zum ersten Male.

Nun hat der Alltag uns wieder. Jedermann, der Arbeit hat, und es sind wieder mehr als im Vormonat, greift mit verdoppeltem Eifer zu. Und was die Hand gestaltet, das hat der Kopf vorbedacht. Unsere Ausfuhr geht wie die aller Länder zurück, weil jedes sich verkapselt. Aber da versucht man es eben, durch Neuheiten den Ring zu durchbrechen. In der Spielwarenindustrie hat einst die deutsche Käte-Kruse-Puppe Weltgeltung erlangt, bis auch da die Krise die große Schrumpfung brachte. Und jetzt kommt diese tüchtige Frau Kruse uns wieder mit einer Überraschung.

Sie ist die zweite Gattin des abwechselnd in Berlin und auf Hiddensö wohnenden Bildhauers Max Kruse, dessen 80. Geburtstag jüngst gefeiert wurde. Der Schöpfer der "Jungen Liebe", der "Mutter", des "Läufers von Marathon" (den übrigens gerade die Erzgießerei Gladenbeck in einem prächtigen verkleinerten Abguß herausbringt) sah unter den Gratulanten Menschen auch ganz entgegengesetzter Lager, die irgendeine Beziehung zur Kunst haben, so Alfred Rosenberg und Bernhard Dernburg, die allerdings zum Glück nicht gleichzeitig aufeinanderprallten. Der Mittelpunkt der Feier war aber eigentlich - Frau Käte.

Sie, die ihrem Manne zu seinen früheren noch sieben eigene Kinder geschenkt hat, mußte, als diese noch klein waren, natürlich viele Puppenkleidchen nähen. Die Kleidchen waren "süß", die Porzellan- oder Wachsköpfe aber greulich schematisch. Da kam dem Bildhauer-Ehepaar der Gedanke, etwas Natürliches, Deutsches, nicht Puppen-, sondern Kindhaftes zu schaffen. Wie das gelungen ist, wissen wir alle.

Nun aber kommt das Neue. Käte Kruse hat sich schon immer über die gespreizten Ankleidefiguren in den Schaufenstern der Konfektion geärgert. Da baut sie jetzt in ihrem Werk, das 64 Arbeiter hat, ein lebensgroßes Ding mit einem ansprechenden Gesicht und mit richtigen Gelenken. Das wird eine Augenweide sein - und vielleicht ein Ausfuhrgegenstand in die ganze Welt. Diese neue Figur kann man in vollkommen wirklichkeitsgetreuer Haltung vor das Klavier oder den Frisierspiegel oder mit übereinandergelegten Beinen an das Teetischchen setzen oder zum Tennisspiel oder in das Autoboot stellen. Die ersten paar Stück sind schon nach Amerika, zwei weitere nach Bremen verkauft worden. Sie kosten natürlich etliche hundert Mark, aber sie haben den Vorzug, daß man ihrer nicht nach wenigen Jahren überdrüssig wird und nach irgendeinem vielleicht blödsinnigen Ersatz sucht, wie wir es im letzten Menschenalter schon so oft erlebt haben.

Es kann nicht alles in Berlin gemacht werden, es wird auch zum Glück nicht alles in Berlin gemacht; im Reiche draußen gibt es viele Mittelpunkte des Schaffens. Aber manches bedarf des Berliner Stempels. Eine Sängerin, die nicht Berliner Kritiken vorweisen kann, findet kaum zu einer Konzertreise durch Deutschland einen Unternehmer. Auch - so etwas gibt es wahrhaftig noch - die Revuen, mit denen im Sommer die Provinz abgegrast wird, werden fast durchweg in Berlin geboren.

Wenigstens ihr erstes Personal wird hier zusammengestellt und gedrillt.

Wie dergleichen entsteht, habe ich schon längst gern wissen wollen. Da lese ich vor einigen Tagen eine Notiz, daß die Uraufführung des Ausstattungsstückes "City auch nicht normal" als Gastspiel in Berlin demnächst vor sich gehen werde. Und gleichzeitig erscheint folgende kleine Anzeige in den Berliner Blättern:

30 Tänzerinnen und Statistinnen
schöne Figuren, gesucht.
Melden Sonnabend mittags Theater Schiffbauerdamm.

Klar: da gehe ich hin. Zwar nicht als Tänzerin, sondern nur als "Kiebitz", wie etwas spitz eine der jungen Damen bemerkt. Es sind ja auch noch andere Männer da. Der Revue-Verfasser, Schäfer-Dollinoff, selbst, dazu der Herr Direktor und der Herr Ballettmeister. In den Wandelgängen ist es gestopft voll von Bewerberinnen. "Aber Kinder, nu mal die Röcke weg, sonst kann man ja Euch nicht beurteilen!" Die meisten kennen einander schon von ähnlichen Unternehmungen her, der Ton ist gemütlich, aber nicht salopp. Wer den Betrieb kennt, der hat schon Trikothöschen mitgebracht; wer es nicht getan hat, der muß das Unterkleid nach Ablegen der äußeren Gewandung hochstecken. Dann werden Gruppen zusammengestellt.

Zuerst kommen 15 Blonde, dann 15 Dunkle, untergefaßt, im Girlschritt hereingetanzt. Der Ballettmeister macht laut: Bambabam, Babambabam, Bambam. Tempo, Tempo! Er sieht gleich, wer sich gut anpassen kann und wer schnell den Rhythmus begreift.

Auf die Zehntelsekunde genau müssen die Beine gleichzeitig vorgeschnellt oder hochgeworfen oder gerollt werden.

Die offenbar Unmusikalischen, Unrhythmischen werden gleich weggeschickt, die anderen dürfen, nachdem der Einmarsch wohl ein dutzendmal wiederholt worden ist, in die Ecke der vorläufig Vorgemerkten. Am spanischen Walzer mit Drehung und graziöser Handbewegung scheitern viele. Die Prüfung dauert mehrere Stunden, die endgültig Angenommenen haben die Aussicht, für die zwei Wochen Gastspiel in Berlin 45 Mark zu bekommen und, wenn sie auf die Reise durch Deutschland mitgenommen werden sollten, außerhalb das Doppelte, also 180 Mark im Monat.

Freude leuchtet auf. Eine der Glücklichen, deren Gesicht von viel Entsagen zeugt, erzählt mir:

"Ich bin 21 Jahre alt, ich kann nur zweimal wöchentlich Mittag essen, ich stehe ganz allein, mein Zimmer kostet 20 Mark monatlich, meine Arbeitslosenunterstützung beträgt 36 Mark im Monat, dabei kann ich Spitzentanz, Spagat, alles, - Gott sei Dank, jetzt bin ich für zwei Wochen gesichert!"

Hungrige Gesichter blühen. Andere aber verfallen sichtlich, wenn sie zu den Abgewiesenen gehören.

Die Proben zu der Revue werden nicht bezahlt. Es wird fünf Tage vom Morgen bis zum Abend geprobt. Dann muß alles sitzen. Vierzig Beine und ein Schlag.

Ein junges Mädchen, das schon lange nichts mehr verdient hat, nur nach Absolvierung der Handelsschule und der Ballettschule zweimal kurz in Stellung war, hat sich zu dieser Prüfung ein Kleid von einer Freundin leihen müssen.

"Ich sitze den ganzen Tag zu Hause, ich habe nichts Richtiges mehr für draußen anzuziehen. Was jetzt kommt, das ist hartes Brot, wenig Brot, aber es ist doch anständiges Brot. Früher hockten lauter fette Juden hier herum, da mußte man sich anfassen und zwicken lassen, und jeden Abend sollte eine andere mit ausgehen. Das ist heute schon ganz anders geworden, wir sind wieder Menschen, nicht gekaufte Tiere. Man bekommt neuen Lebensmut, auch wenn es einem noch so dreckig geht. Die Leute vom Revuegeschäft sind doch mehr oder weniger in der Furcht des Herrn."

Das tut wohl, wenn man so etwas hört. Natürlich wird auch geschimpft. Eine dicke - der Bauer würde sagen: schlachtreife - Frau giftet sich, weil man sie als Statistin nicht nimmt. Mehr Turnen und weniger Schlagsahne, meine Liebe!

Wieviel "anständiger" es gegen früher in jeder Beziehung geworden ist, das können auch alle Teilnehmer am Volksfeiertag in Berlin bestätigen. In der verflossenen Novemberrepublik wurden gelegentlich - es war wohl sehr nötig - "Höflichkeitswochen" veranstaltet. Ullstein- und Mosseblätter stifteten dazu Preise, ernannten Ordensritter vom Steuer und dergleichen mehr. Das ist nicht mehr nötig. Wir werden wieder ein Volk stolzer Selbstzucht, "angeschnauzt" braucht man dann nicht zu werden, alles gehorcht, und wer zu befehlen hat, der tut es höflich und freundlich.

Ob es Polizisten oder S.A.-Leute oder Feldjäger waren, die die Aufsicht und die Absperrung unter sich hatten, sie fühlten sich alle als Diener der Volksgemeinschaft.

Die sprichwörtliche Berliner Grobheit war wie weggewischt.
3. Mai 1934 (Donnerstag)


35

Auf Entdeckungsfahrt im Tiergarten - Max Reinhardts Nachfolger im Bellevuepark - "Preußen wieder sauber" - Wochenendausflug Berlin-Helsingfors-Berlin - Herrenpartie am Himmelfahrtstag.

Wenn man im Regen fröstelt, zieht man sich am liebsten in seine vier Wände zurück. Das schier unwahrscheinlich schöne Sommerwetter dieses Frühlings aber verleitet zu Unternehmungslust im Freien. So mancher Berliner hat jetzt seinen Tiergarten wie Columbus Amerika neu entdeckt. Je nun, sonst saust man eben im Auto oder in der Straßenbahn auf der Charlottenburger Chaussee quer hindurch, um zum Kaiserdamm, oder am Südrande entlang, um zu Kurfürstendamm und den südwestlichen Vororten zu kommen. Ebenso umgekehrt in die Stadt hinein. Wie süß die Amsel - auch eine weiße ist da heimisch - im Tiergarten singt, wie zutraulich die Wildenten unmittelbar vor spielenden Kindern über die Parkwege stolzieren, wie alles da blüht und duftet, das weiß der eilige Großstädter gar nicht.

In der Buchenallee steigen die Stämme vor einem empor wie mit Hieroglyphen bedeckte Obelisken. Es sind keine Hieroglyphen. Es sind vernarbte und verharrschte Anfangsbuchstaben deutscher Namen. Manchmal ein Herz, ein Pfeil, ein Datum dazu. Ach ja: ich schnitt es gern in alle Rinden ein . . . Im Grunde ist es doch eine Unsitte, eine Leichtfertigkeit gewesen, vielleicht sogar eine Grausamkeit, lebende Bäume so zu verwunden. Mit Genugtuung stellt man bei dem Entdeckungsgange fest, daß es keine Messerhelden neueren Datums mehr gibt. Was man einst als Poesie empfand, das gilt heute einfach als dumm.

Noch etwas weiter, da umschließt einen der Friede des Bellevueparks. Das ist der einzige durch Gitter abgesperrte Teil des Tiergartens, dessen Türen aber dem Spaziergänger offen stehen. Hier ist er vor Wagen, vor Radfahrern, vor Reitern sicher. Es ist eine stille Oase für glückselige Leute.

Mitten darin ein Haus wie ein köstliches altes Gedicht.

Die aus vergangenen Jahrhunderten stammenden Deckengemälde und die ganze Architektur sind erhalten, aber jeglicher "moderne Komfort" ist eingebaut, es ist ein Schlößchen für kunstsinnige Genießer der Neuzeit geworden. Die Stadt Berlin hatte diese Wohnung, ein Idyll in der tosenden Metropole, dem Herrn Goldmann überlassen, der sich den Künstlernamen Max Reinhardt zugelegt hatte. Er war als Regisseur eine Größe, als Mensch eine sehr kleine Nummer; und jetzt ist er Emigrant und auf einmal tschechoslowakischer Staatsangehöriger. Nun ist man neugierig, wer nach ihm diese schönste Berliner Bleibe bezogen hat, ob es etwa ein führender Nationalsozialist ist, der sie sich hat zuschanzen lassen. Nein, ganz und gar nicht. Der Neuwohner heißt Mendelssohn-Bartholdy, und ein vornehmer Diener schaut zum Küchenfenster heraus.

Die Berliner städtische Verwaltung unter dem Reichskommissar Dr. Lippert und die preußische sowie die Reichsregierung haben Wichtigeres zu tun, als es das ist, was ihr die Emigranten in ihren Greuelberichten andichten. Preußischer Geist ist über das Reich gekommen - und Preußen geht im Reiche auf, wie die Übertragung wichtiger Ministerien an Frick und Rust beweist. Man sieht in Berlin auch nur noch die Reichsflaggen, die schwarzweiße preußische ist verschwunden. Die anderen Länder werden das wohl oder übel nachahmen, auch grünweiß und blauweiß und schwarzrot werden über kurz oder lang als Hoheitszeichen nur noch historische Erinnerung sein, ohne daß die landsmannschaftlichen Eigenarten davon berührt werden.

"Ein Reich, ein Volk, ein Gott!" Das war der Wunschtraum Wilhelms II., als er mit diesen Worten als junger Monarch zum ersten Male den Reichstag eröffnete. Heute werden alte Träume Wahrheit.

Ein Vorgänger Fricks hieß Severing. Der lehnte es ab, gegen seine Genossen Rosenfeld und Seydewitz einzuschreiten, die in einer von der Reichstagsfraktion der Sozialdemokratie herausgegebenen Broschüre den Landesverrat empfahlen, wenn er im Klasseninteresse des Proletariats liege. Der berief drei zionistische Juden in leitende Stellungen des Ministeriums des Inneren. Der betrieb die Vorbereitung des Bürgerkrieges durch die rote "Schufo". Der sagte einmal im Reichstag:

"Ja, ich bin international, ich rechne alle diejenigen, die auf ihr nationales Gefühl stolz sind, zu den geistig Minderbemittelten."

Im Februar 1933 sank sein Stern. Der nationale sozialistische Vizepräsident des preußischen Landtages, Haacke, konnte Severing, als er gegen Kube polemisierte, unter tosendem Beifall nur sagen:

"Herr Minister, ich stelle fest, daß das Parlament Sie nicht mnehr hören will!"

Und schon im Jahre zuvor hatte die im Verlag von Franz Eher Nachfolger erschienene Broschüre "Korruptionssumpf Preußen" mit den Sätzen geschlossen:

"Preußen muß wieder sauber werden! Schlagt Severing und seine Partei!"

Preußen wird wieder sauber; ganz bestimmt. Und mit ihm das Reich. Es hat freilich immer Kinder gegeben, die sich dagegen sträuben, daß ihnen die Ohren gewaschen wurden. Das erleben wir im übertragenen Sinne auch heute. Aber es hört einmal auf.

Was kann aus diesem Deutschland für ein herrlicher Staat werden!

In Sonnenglast und Maiengrün habe ich es mir wieder einmal von oben angesehen. Da hat man die nötige Ruhe dazu, während die Eisenbahn, auch wenn sie ausnahmsweise einmal gleitet, nicht rüttelt, die Bäume und Telegraphenstangen zu irrsinnig schnell vorüberhasten läßt. Das Flugzeug mag mit etlichen hundert Kilometern Geschwindigkeit in der Stunde seinen Weg machen, aber es fliegt eben so hoch, daß die Landkarte, daß die Seen und Flüsse und Meere, daß die Häuser, die Gespanne, die Wäsche auf der Wiese, der Schäferhund für das Auge langsam genug "abrollen". Der Berliner Flughafen ist allmählich der beliebteste Platz für einen Nachmittagskaffee im Freien geworden, da sieht man was, da hört man was, er ist für Zehntausende von Berlinern das geworden, was für die Kleinstädter der Vorgarten ihres Bahnhofrestaurants ist. Der Drang in die Weite wird übermächtig, wenn man da so aus aller Herren Ländern die Riesenvögel ankommen oder abziehen sieht. Köln oder Frankfurt, von diesem Sommer ab mit der Lufthansa in 80 Minuten erreichbar, sind sozusagen nur noch Vororte von Berlin. Und wer einen Wochenendausflug machen will, der nehme nur gleich die Karte von Europa zur Hand.

Hab' ich getan.

Und bin mal schnell nach Danzig, Königsberg, Riga, Reval, Helsingfors und zurück gerutscht.

Die Staaten unter einem sind nicht wie im Schulatlas verschiedenfarbig angepinselt. Trotzdem springt der Unterschied zwischen dem Endstück gesegneten deutschen Landes und der Fremde dahinter einem sofort in die Augen. Man ist über bis zum letzten Quadratmeter kultivierten Boden eines kultivierten Volkes geflogen. Und nun auf einmal: Moor, Krüppelwald, Weide; Weide, Krüppelwald, Moor. Dieses ist pflanzenlos, braunrot, mit giftiggelben Fettaugen, dazwischen Wassertümpeln wie einst im Gebiet der flandrischen Granattrichter. Aha, Litauen! Da liegt ja auch Schaulen unter mir, Donnerwetter, hat das Städtchen sich vergrößert; und da überfliege ich alle Kampfstätten von 1915 und 1916, bin schon, der Erinnerungen voll, über dem großen Tirulsumpf und lande in Riga.

Die Militärflugzeuge nebenan tragen alle das Hakenkreuz als Hoheitszeichen. Nanu? Die lettischen Flieger lächeln stolz und sagen: "Das hatten wir schon vor Hitler!"

Bis Pernau über See in Küstensicht, von da ab wieder über Land nach Reval. Die Hauptstadt Estlands ist in fünfzig Jahren von 30 000 auf 130 000 Einwohner gestiegen, aber als Bild das der alten vieltürmigen Hansestadt geblieben, eines der schönsten Städtebilder der Welt, ganz gleich, ob man es zu Lande oder von See her oder aus der Luft erblickt. Ein Tag Aufenthalt und Gespräche mit Deutschen, Esten, Russen haben mir mehr Erkenntnis eingebracht als wochenlanges Studium.

Dann hinüber, in 25 Minuten über den ganzen finnischen Meerbusen, nach Helsingfors. Das ist eine behäbige, fast reiche moderne Großstadt, obwohl auch hier, wie ich es überall auf dem Fluge erkennen konnte, die Häfen kaum mehr Leben zeigen. Der Handel stockt auf der ganzen Erde. Estland erliegt fast in dieser Not. Finnland hat im Gegensatz dazu kaum Arbeitslose, auch nicht unter der weiblichen Bevölkerung; im großen Hotel Kemp empfängt einen nicht ein Portier, sondern - eine Portière, wenn man so sagen darf, die sechs Sprachen ebenso glänzend spricht, als ihre Fingernägel glänzend poliert sind.

Husch, Husch: wieder in Berlin. Wer es sich einmal leisten kann, der macht es heute. Tagesausflug nach London. Wochenendausflug nach Capri. Heute genügen schon drei Wochen Ferien für eine Indienreise. O Wunder über Wunder.

Um so inniger betrachtet man dann seine allernächste Umgebung, fährt ein paar Kilometerchen mit Bahn oder Bus und sitzt im schönsten deutschen Märchen. Es gibt keine Großstadt auf der ganzen Erde, die so viel entzückende Möglichkeiten rundum aufweist, denn überall ist hier Wasser und Wald. Wenn die Welt draußen das erst so richtig wüßte, müßten ganze Touristenströme die Mark Brandenburg aufsuchen. Was könnten die Leute daheim allein von diesem Himmelfahrtstag erzählen! Das ist nun einmal, trotz Abebbens der früheren Alkoholflut bei den traditionellen "Herrenpartien", eines der schönsten Volksfeste der Berliner. Wer einen Fernsprecher hat, der hat schon tags zuvor den Kundendienst der Reichspost angerufen: "Bitte, Fräulein, morgen früh Punkt 5 Uhr wecken!" Und dann ist man mit einem Satz aus dem Bette, reißt das Fenster auf und sieht auf der Straße schon Pilgerhäuflein männlichen Geschlechts, die Aktenmappe mit Eßvorräten unter dem einen Arm, womöglich die "Teufelsgeige" im andern, und dazu, wenn es geht, ein bißchen lustig kostümiert.

In der alten Fischerhütte am Schlachtensee singt eine große Gruppe fröhlich und unentwegt. "Märkische Heide, märkisches Land", "Lore, Lore, Lore, Lore, schöne Mädchen gibt es überall", "Es geht ein Rundgesang", "Vater sagt, das ist mein Fall", "Fischerin, du kleine, fahre nicht allein". Einmal singt einer auch solo. Kommt ein anderer Gast, Zylinder mit gelbem Schlips darum auf dem Haupte, und sagt:

"Du bist ja der reine Caruso,
Machst den Mund auf und zu so!"

Wo ich an diesem Tage auch hinkomme, überall ist man harmlos und vergnügt und - bescheiden. Keine Völlerei, nicht die frühere ständige Abwechslung von Bier und Cognac. Es wird auch viel gebadet, viel gerudert. Am Stölpchensee wollen vier junge Leute ein Boot haben, sollen ein Pfand dafür hergeben und sagen betreten:

"Was denn für ein Pfand, Jackett oder so?"

"Nee, meine Herrens, richtig Jeld!"

Da ist guter Rat teuer, aber man kratzt es schließlich zusammen.

Diesmal haben auch die sogenannten besseren Leute bei dem lockenden Wetter mitgemacht. Vor dem Ausflugsschloß Marquardt am Schlänitzsee sitzen zehn stämmige Gestalten - man möchte sie den Zwoeinhalbzentnerklub nennen - und erleben ihren Herrenpartie-Ulk darin, daß man sie lächelnd anstarrt. Sie sind in dem Motorboot des einen von Berlin über Potsdam hergekommen, trinken nun behaglich Kaffee und freuen sich selber an ihrer Tracht: weißleinene Matrosenanzüge, Riemen um den stattlichen Bauch.

Eines sei in Summa als das Hervorstechendste dieses ersten schönen Himmelfahrtstages im neuen Reiche festgestellt: er ist ein schlichter, von jeder Roheit freier Volksfesttag ganz ohne Krampf gewesen.
11. Mai 1934 (Freitag)


36

Der Fall Bassermann - Mit Frau die Hälfte - Im Haus am See - Alles wird Mokka Efti - Muttertag - Der Kuchenvierer - Studentinnen in Männerschaftstiefeln - Strandbad.

Wer sich selbst ausstreicht, dem ist nicht zu helfen. Zuerst ist das Gesetz mit dem Rotstift über die Listen der Intellektuellen gekommen. Daß mehr als 80 v.H. der Berliner Rechtsanwälte, mehr als 80 v.H. der Berliner Bühnensterne nichtdeutscher Herkunft waren, unser eigner Nachwuchs völlig überwuchert wurde, das war doch ein auf die Dauer unmöglicher Zustand. Wir haben an den Werthauer und Gerron und Genossen nichts verloren. Das Gezeter in Prag oder Paris, daß Deutschland seine Talente verbanne, läßt uns kalt.

Aber nun ist ein Fall Tagesgespräch in Berlin, wo ein großer deutscher Künstler, Albert Bassermann, sich selbst von der Liste der Bühnenangehörigen gestrichen und sich grollend in sein Landhaus in Arosa in der Schweiz zurückgezogen hat. Er ist ja schon hoher Siebziger. Sehr lange hätten wir diesen feinen Kopf sowieso nicht mehr im Rampenlicht gesehen. Nur sind die Begleitumstände des Vorgangs wirklich sehr lehrreich, weil sie den draußen Keifenden zeigen können, wie weitherzig man an den entscheidenden Stellen in Deutschland ist.

Also Bassermann hat in einer Zeit, wo die Schauspieler, um mit Goethes Mephisto zu sprechen, "Helenen in jedem Weibe" sahen, an Rassenbehauptung nicht dachten, seine Kollegin Schiff geheiratet.

Er hat sie dann so mit durchgeschleppt. Sie ist nicht anziehend, sie kann nichts, sie ist unerwünscht; man hat sie bisher nur um Bassermanns willen, gezwungen, auf der Bühne hingenommen. Nun weigert sich Leipzig, das mit Bassermann über ein Gastspiel verhandelt, auch seine Frau, die geborene Schiff, auftreten zu lassen. Und das hat ihn, was ihn als ritterlichen Gatten ja nur ehren mag, zum zürnenden Achill gemacht.

Damit könnte die Sache erledigt sein. Er hat seine Mitgliedschaft und seine Ehrenmitgliedschaft in der Bühnengenossenschaft niedergelegt, fertig. Trotzdem - und hier zeigt sich eben die gut deutsche Duldsamkeit und die deutsche Achtung vor der Leistung - ist diesem Albert Bassermann von der Ufa im Einverständnis mit der Theaterkammer eine Bombenrolle angeboten worden. Natürlich müsse er nur vorher seine Streichung wieder zurücknehmen. Aber da trotzt er, da will er nicht in das Rettungsboot einsteigen; der Kapitän bleibt auf seinem versinkenden Schiff.

Da kann man halt nichts machen.

Übrigens ist es für die Wertschätzung dieses Künstlerpaares bezeichnend, wie in der Berliner Gesellschaft Bassermanns letztes Telephongespräch mit einer Theaterdirektion wiedererzählt wird.

"Hallo, hier Bassermann. Jawohl. Gastspiel? Aber gerne! 1000 Mark? Gemacht! Und wenn meine Frau mitspielt? Was, dann wir beide zusammen nur 500? Unerhört! Schluß, Schluß!"

Schade. Er ist doch, auch noch heute, einer unserer besten und vornehmsten Charakterspieler. Die Berliner Presse spricht selbst nach seinem Ausscheiden nur mit herzlicher Hochachtung von ihm. Weder die Fachschaft noch das Propagandaministerium noch sonst jemand legt ihm einen Stein in den Weg. Überall hat er geöffnete Arme gefunden. Nur eines ist im Wege: sein Eigensinn. Oder ist es Hörigkeit des alten Mannes? Wenn junge Künstlerpaare darauf bestehen, stets gemeinsam an einer Bühne zu wirken, selbst wenn der eine Teil von ihnen nur Mäßiges leistet, so ist das verständlich. Es ist keine Ehe, wenn der Mann in Hamburg mimt und die Frau in Plauen. Aber Bassermann könnte es sich leisten, allein aufzutreten. Daß seine Gattin ihn auf seinen Reisen begleitet, dagegen wendet niemand etwas ein. Nur mag man sie nicht auf der Bühne.

Nach ein paar Jahren wird man solche Konflikte nicht mehr kennen.

Unsere jüngste Jugend zwitschert heran, schaut hell in die Zukunft, füllt die Berufe, braucht nicht alles mehr mit Fremden zu teilen. Vor Jahren erzählte ich einmal, daß Ausländer sich erstaunt auf dem Eden-Dachgarten umschauten: sei das wirklich "der deutsche Typ", der da herumsitze oder tanze? Heute ist das Bild schon stark verändert. Sogar die große Gaststätte am Wannsee zwischen Kaiserpavillon und schwedischem Pavillon, das Haus am See, hat eine ganz andere Besucherschicht bekommen. Freilich tragen dazu die "volkstümlichen Preise" seit dem kürzlichen Besitzwechsel sehr bei. Das Haus am See ist zum Mokka Efti geworden, die wie Pilze nach dem Sommerregen überall emporschießen; der Grieche Eftimiades wird allmählich der Kaffeehauskönig von Berlin. Es geht bei Selbstbedienung bis herunter zu 25 Pfennigen für die Tasse Kaffee in dem Wandelgang am See. Auf de Terrasse und auf den Liege- und Tanzwiesen des zehn Morgen umfassenden Parks muß man freilich eine Mark für das Kännchen bezahlen, aber das kostete früher noch das dreifache. Allerdings ist das Haus am See nun eine etwas hemdsärmelige Angelegenheit geworden, nicht mehr ein Luxusaufenthalt für Fremde. Schießbuden und Würfelbuden im Park! Ein Amerikaner, der für die "Newyork Times" schreibt, sagt mir: "Nun ist es nichts Besonderes mehr, da kann ich ebensogut auf den Rummel in Coney Island gehen!" Aber dafür ist das Exzentrische verschwunden. Man sieht jetzt viel schlichte, natürliche Menschen da. Die immer noch einfallenden getünchten Frauen mit den Ochenblutlippen kommen sich wie verloren vor.

Besonders an dem letzten Sonntag, dem Muttertag. Dieses neue Volksfest stammt noch aus dem vorigen System. Ob der Verrohung in den Familien packte nämlich selbst die Schwarzroten das Entsetzen. Da wurde der Muttertag eingerichtet, von oben herunter sozusagen anbefohlen. Wirklich Seele bekommen hat er erst heute. In den Jahren zuvor war er nicht viel mehr als ein Zugmittel für Schokolade- und Blumenläden: schenkt, schenkt, schenkt der Mutter! Diese geschäftlichen Anpreisungen haben in Berlin stark nachgelassen. Wie auch der ganze Zauber mit den Wochenendpaketen in den Schaufenstern. Wochenende und Muttertag sind seither viel schöner geworden.

Und überall auf dem märkischen Wasserparadies tummelt sich mehr denn je die hoffnungsvolle frische Jugend.

Da kommt vom Stößensee her der "Kuchenvierer" herangeschossen und legt an der Badewiese in Gatow an der Havel an. Vier Ruderinnen und das Steuermädel vom Studentinnen-Sportverein ziehen das Boot an Land, schmücken einen langen Tisch oben auf der Terrasse mit Blumen, bauen Kuchenberge auf, inzwischen folgen andere Skullboote des Verein, Vierer und Zweier, und die Insassen setzen sich an die fröhliche Kaffeetafel. Es ist der Tag des Anruderns. Daran beteiligen sich nicht nur gegenwärtige, sondern auch ehemalige Studentinnen. Vier von ihnen haben schon ihren Doktor gemacht, eine ist Lehrerin, eine Apothekerin, eine Medizinalpraktikantin.

"Was hast du in den Ferien gemacht?" fragt jede jede. Und nun geht das Erzählen los.

Da hat eine, billig, für nur 30 Mark, eine Akademikerwanderung nach Ostpreußen unternommen.

"Wir waren drei Mädels mit zwanzig Studenten, zunächst haben die Herren der Schöpfung - Ihr versteht, Zeitalter des Mannes und so - uns schief angesehen. Aber nachdem wir in den ersten zwei Tagen rund hundert belegte Brote zurechtgemacht und zwölf Knöpfe angenäht hatten, hatten wir uns hereingepaukt, dann wurde es nett."

Drei andere berichten aus verschiedenen Arbeitslagern, Erkner bei Berlin, Ostpreußen, Schlesien.

Sie haben Gräben gezogen, sie haben Kiefern gepflanzt, sie waren auch einzeln bei Siedlern tätig.

"Für die schwere Arbeit, oft im Wasser, hatten wir sackleinene S.A.-Hosen an und S.A.-Stiefel. Größe 41 mit Hufeisen. Ui jeh! Nach einigen Tagen war der Muskelkater so arg, da bekam ich das heulende Elend und wollte streiken. Aber nachher bin ich doch zehn Wochen geblieben - und nun seht Euch mal meine kräftigen Arme an! Ich habe ganze zwölf Pfund zugenommen. Dabei hat es an Unterhaltung nicht gefehlt, wir haben fast jeden Abend in einem benachbarten NSBO.-Heim mit Amtswaltern getanzt."

An einem Ende des Tisches hört man allerlei chemische Formeln. Da wird von Sulfaten und Sulfiden gesprochen. Dann hüpfen die Mädel eines nach dem andern wie Frösche ins Wasser, schwimmen, prusten, legen nachher wieder ihr Ruderzeug an und hauen ab, Richtung Sakrower See.

Ein Gewimmel von Segeljachten kommt, eine große gleitet quer, da muß man hart vorweg. Nun heißt es, sich tüchtig in die Skulls zu legen.

"Achtung, durchziehen! Eins! Eins! Eins! Eins! Kreuz durch, feste!"

So, das wäre geschafft, man braucht nicht mehr zu spurten. Der gute Schiller mit seinem Wahrspruch:

"Kraft erwart' ich vom Mann; des Gesetzes Würde behaupt' er.
Aber durch Anmut allein herrschet und herrsche das Weib!"

würde sich wundern, wenn er vom Olymp herab dieses Treiben sich ansehen und feststellen könnte, daß Anmut - Anmut ist Schönheit in der Bewegung - und Kraft sehr wohl sich vereinigen lassen, und zwar bei jungen Damen im Jahre des Heils 1934. Ein bißchen komisch ist ihnen nur der Wechsel vorgekommen, von den Männerschaftstiefeln in die Tanzschuhe, von den Arbeitshosen in das lange Abendkleid. Aber sie haben es gut überstanden. Es ist ein viel weiblicheres Geschlecht als das von 1932, Vermännlichung ist nicht mehr "gefragt", und die körperliche Betätigung im Freien schafft nicht etwa Figuren, wie es die der Bergarbeiterinnen des Bildhauers Constantin Meunier sind, die überhaupt nicht mehr wie Frauen aussehen.

Im Strandbad Wannsee ist wieder die Masse Mensch versammelt. Tausende schwimmen oder strampeln im Wasser, Zehntausende aalen sich in der Sonne. Natürlich meist paarweise. In der Beziehung ändert die Welt sich nicht, ganz gleich, wie sie regiert wird. Die Menschheit soll nicht verkümmern.

Aber daß die Paare jetzt nicht mehr wie noch vor zwei Jahren in einem Fastnichts von Badeanzügen tanzen, zu Grammophonmusik auf den Flachdächern der Umkleidehallen, das ist gut so. Eine Gruppe von jungen Männern hockt da gerade beieinander und debattiert über die "gute alte Zeit" vor zwei Jahren, wo alles und noch etwas möglich war.

Einer meckert:

"Goebbels' Gesichtspunkte in allen Ehren, aber wir haben doch Moralin gekriegt, nicht Moral!"

Einer erwidert:

"Was du entwickelst, das sind keine Gesichtspunkte, das sind bestenfalls Sommersprossen!"
17. Mai 1934 (Donnerstag)



Glossen 31 - 33

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© Karlheinz Everts